„Habt Mut, das Gute in euch zu entdecken“

Eginald Schlattner seit einem Vierteljahrhundert Gefängnispfarrer in Aiud

Pfarrer Eginald Schlattner in seiner Kirche in Rothberg

Ein Vierteljahrhundert ist es her, seitdem Eginald Schlattner als Gefängnispfarrer der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien in den Haftanstalten des Landes zu Gange ist. Der auf dem Rothberger Pfarrhof in Siebenbürgen lebende Geistliche legte vor Kurzem seinen Jahresbericht vor. Darin lässt er chronologisch die verstrichenen 25 Jahre Revue passieren, in denen er im Dienste der Ausgegrenzten stand. „Sogar wenn ein Mithäftling oder ein inhaftierter Pfarrer über einem Sterbenden ein Vaterunser sprach oder das Kreuz schlug, wurde das mit Karzer geahndet“, erinnert sich Eginald Schlattner an die Zeit der kommunistischen Diktatur. Erst 1991 wurden Geistliche aller Konfessionen in den Gefängnissen zugelassen – allerdings zelebrierte Eginald Schlattner erst im Mai 1992, an dem Sonntag Jubilate, seinen ersten Gottesdienst in der Haftanstalt in Aiud. „Die Beauftragung des Gefängnispfarrers der Evangelischen Kirche habe ich zögernd angenommen, war ich doch selbst unter der Diktatur als politischer Sträfling in Haft. Gebrandmarkt für immer, gebranntes Kind scheut das Feuer“. Gerechnet habe er am wenigsten damit, dass im Knast auch Sachsen anzutreffen wären...

Begegnung auf Augenhöhe

21 Männer aller Altersklassen traf er im Hochsicherheitsgefängnis Aiud an und reichte ihnen spontan die Hand. Und das, obwohl die Behörden das untersagen wollten. „Ich machte klar, dass ich kein Wachmann sei, sondern Pfarrer“. Seitdem kümmert er sich um die Häftlinge und hört ihnen zu. „Es bleibt unter uns dreien: Er, ich, Gott“, sagt Schlattner. Über ihre Vergehen befragt er sie nicht. Die büßen sie als Strafe ab, sagt er. Er ist überzeugt, dass nicht die Mauern des Gefängnisses die Grenze zwischen den Guten und den Bösen seien. „Habt den Mut, das Gute in euch zu entdecken. Den Mutwillen zum großen Sünder hattet ihr bereits. Jedoch als Ebenbild Gottes ist der Mensch radikal gut“, klingt die Aufforderung des Geistlichen an die Insassen. Und gerade dieses biblische Bild vom Menschen ist es, das ihn Gefängnispfarrer sein lässt, wie er selbst zugibt.

In den 25 Jahren, in denen Eginald Schlattner die Ausgegrenzten betreute, lernte er viele Lebensgeschichten kennen. Davon könnte er Bände erzählen. Bereits am Anfang seines Dienstes als Gefängnispfarrer wurde ihm die Betreuung von 40-50 orthodoxen Frauen im Gefängnis Aiud anvertraut. Die meisten der Frauen hatten ihre Männer umgebracht. „Vor allem fuhr ich den inhaftierten Müttern regelmäßig die Kinder hin. Mit Sondererlaubnis und unter meiner Aufsicht durften die Mütter ihre Kinder in die Arme schließen“, erinnert sich Schlattner, der inzwischen ein paar Häftlingsprofile genau beschreiben kann. Gerade bei den Dieben kam es immer wieder vor, dass sie nach der Entlassung rückfällig wurden. Allerdings wiederholten sich Vergehen wie Mord und Totschlag bei keinem der Freigelassenen.

Der richtige Mann am richtigen Ort

„Wichtig für unsere Kirche ist ab 2007, dass der Strafgefangene sich zum Geistlichen seines Beliebens melden kann und nicht mehr ex offo an den Pfarrer seiner Konfession gewiesen ist“, sagt Eginald Schlattner. Eine Chance, die die Evangelische Kirche wahrnimmt, denn schließlich sitzen in den rund 40 Gefängnissen in Rumänien nur noch ein paar Leute evangelischen Glaubens ein. Insgesamt hat die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien rund 13.000 Gemeindemitglieder, viele davon alte Leute. Schließlich ist Eginald Schlattner nicht nur für die Gefangenen eine Bezugsperson, sondern auch für die Bundesdeutschen, deren Prozesse hierzulande laufen. Eine Vertrauensperson wurde er auch für das Personal – von den Spitzenkadern an bis zu den unteren Chargen.

Ihm wurde auch freie Hand bei der Gestaltung der gottesdienstlichen Begegnungen gelassen. In seinem Bericht nimmt Eginald Schlattner auch Stellung zur Situation der Haftanstalten in Rumänien. Die Bedingungen ließen sehr zu wünschen übrig – auf wenigen Quadratmetern müssen die Häftlinge (über)leben. „Bei viermal weniger Einwohnern Rumäniens als in der Bundesrepublik nähert sich die Anzahl der Gefängnisinsassen immer wieder der Gesamtzahl in Deutschland“, beschreibt der Pfarrer die Situation. „Kein Spind, kein Tisch, meistens keine intimen Toiletten, Wärme und Wasser gibt es sporadisch“, sagt er. Die meisten Haftanstalten in Rumänien stammen aus der Zeit der k.u.k.-Monarchie oder der rumänischen Fürstentümer. Die Durchsuchung jener, die die Häftlinge besuchen, sei überaus strikt.

Auf die Frage, ob sich sein Dienst lohnen würde, hat Eginald Schlattner eine kurze Antwort: „Ich bin der richtige Mann an dem richtigen Ort“. Nicht selten wurde ihm vorgeworfen, dass er sich zu betont mit den Tätern solidarisch zeigt. Doch das sei für ihn wichtig: „Mein seelsorglicher Auftrag gilt primär den Tätern“, erwidert er. Das Lebensmotto von Eginald Schlattner lautet seit seiner Kindheit: „Verlasse den Ort des Leidens nicht, sondern handle so, dass die Leiden den Ort verlassen“. Das ist auch der Grund, weshalb der Pfarrer nicht ausgewandert ist. An einem einzigen Tag im Jahr besucht Schlattner ein Gefängnis in einer anderen Rolle. „Nicht als Geistlicher, sondern als Kollege“, sagt er. Jedes Jahr, am 28. Dezember, begibt er sich in eines der Gefängnisse, in Erinnerung an den Tag seiner Verhaftung 1957 als Student der Hydrologie in Klausenburg. Seelsorger für die Gefangenen möchte er solange bleiben, wie er stehen und gehen kann: „Es bleibt unversehrt, was ich seit aller Anfang an den mir Anvertrauten hinter Gittern und Mauern ans Herz gelegt habe: Sucht das Gute in Euch – verschüttet, vergessen, nicht erkannt, ungeglaubt. Zeit ist!“

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Eginald Schlattner

Eginald Schlattner wurde 1933 in Arad geboren und wuchs in Fogarasch auf. Am 1. November 1978 wurde er von Bischof Albert Klein zum Pfarrer in Rothberg/Roşia ernannt. Nahezu die Hälfte seines Lebens verbrachte er dort. Er schloss zwei Hochschulstudien ab: Hydrologie und Theologie. 1957 wurde er verhaftet und 1959 wegen „Nichtanzeige von Hochverrat“ verurteilt. Bekannt wurde Schlattner vor allem als Schriftsteller. Seine Romane „Der geköpfte Hahn“, „Rote Handschuhe“ und „Das Klavier im Nebel“ erfreuen sich großen Erfolgs. Sie bilden die Trilogie „Versunkene Gesichter“.