„Ich beschloss, den Irren zu spielen, um dort wegzukommen“

Über 70.000 Rumäniendeutsche wurden 1945 bis 1949 in die Sowjetunion deportiert – zwei davon erzählen ihre Geschichte

Mit 19 für fünf Jahre in russischer Gefangenschaft: Ana Creţu kehrte nach der Zwangsarbeit zurück und traf auf ein für sie verwirrendes Rumänien.

Schauspiel für die Freilassung: Willi Bartels gab vor, verrückt geworden zu sein und wurde drei Jahre nach seiner Deportation nach Bukarest zurückgebracht.

Viele Stühle blieben beim Treffen der Russlanddeportierten im Schillerhaus unbesetzt – die Zeitzeugen sind bereits verstorben oder zu alt.
Fotos: Elisa Werner

Sie wurden verschleppt und zur Arbeit in Bergwerken und Schwerindustrie gezwungen. Dieses Schicksal teilten etwa 70.000 bis 80.000 Rumäniendeutsche, die vom Januar 1945 bis Dezember 1949 aufgrund ihrer Herkunft als Reparationen für die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges in sowjetische Arbeitslager deportiert wurden.

Um der Verschleppten zu Gedenken, lädt das Deutsche Forum in Bukarest jährlich zum Treffen der ehemaligen Russlanddeportierten  im Schillerhaus  ein, zuletzt am 14. Januar 2014. Allzu viele Menschen erschienen jedoch nicht. „Viele sind schon verstorben oder schlicht zu alt, um den Weg auf sich zu nehmen“, erklärt Christiane Cosmatu, Unterstaatssekretärin im Departement für Interethnische Beziehungen der rumänischen Regierung.

Nur zwei Personen, die in der ehemaligen Sowjetunion Zwangsarbeit leisten mussten, waren unter den Anwesenden an jenem Dienstag im Schillerhaus. Ihre Lebens- und Leidensgeschichten aus der russischen Gefangenschaft sollen hier erzählt werden.

Gefährliche Arbeit im Bergwerk

Ana Creţu, ehemals Kitzling, kam mit ihrer Tochter zu dem alljährigen Treffen. Ihr Großvater war Deutscher und kam nach Bukarest, wo auch Ana und ihr Bruder aufwuchsen. Die deutsche Sprache beherrscht sie allerdings nicht. „Meine Mutter war Rumänin und mein Vater sagte immer, dass, solange man in Rumänien lebt, auch Rumänisch gesprochen werden muss“, erklärt Ana und schiebt ihre große Brille zurück. „Wahrscheinlich hatte er als Kind selbst Probleme mit seiner deutschen Herkunft und wollte daher nicht, dass seine Kinder Deutsch sprechen.“

Ana Creţu und ihr Bruder wurden Anfang Januar 1945 in ein Kohlebergwerk in Krasnodar im Kaukasus deportiert. Sie war damals 19 Jahre alt und im letzten Schuljahr, ihren Bruder holten sie aus der Armee. „Es wurden nur jene mitgenommen, die deutscher Herkunft väterlicherseits waren“, erklärt sie. „Es waren Hunderte – ein ganzer Zug voller Viehwaggons vollgestopft mit Menschen!“

Ihre Arbeit im Kohlebergwerk hat sie auch heute noch genau in Erinnerung: „Wir mussten Waggons mit Kohle und Holz schieben, sie beladen und entladen sowie die Wände in den Bergwerkschächten mit Holz auslegen.“ Für die Arbeit bekamen die Deportierten dieselbe Bekleidung wie die Bergleute. Da Ana die Galoschen zu groß waren, wickelte sie ihre Füße in Leinenstoff, damit sie besser passten.

Die Zwangsarbeit im Bergwerk war alles andere als ungefährlich: „Oft gab es Explosionen“, erzählt die heute 89-Jährige. „Es gab ohnehin oft Unfälle. Einmal ist mir sogar einer der Waggons über die Füße gerollt, als ich ihn schob, um ihn am Entgleisen zu hindern.“ Im Lager schlief man nach der Arbeit in einem einzigen großen Raum zusammen mit vielen anderen Arbeitern und noch mehr Flöhen auf Strohmatratzen. Dort gab es auch eine Kantine, die jeden Tag ausschließlich Sauerkrautsuppe servierte.

Plötzlich herrschte der Kommunismus

Insgesamt fünf Jahre schuftete Ana im kaukasischen Kohlebergwerk, bis sie schließlich nach Hause zurück konnte. Vorher gab es nur selten Rücktransporte, ausnahmslos mit alten oder kranken Menschen. So wurde Ana in einem Viehwaggon des letzten Transportes nach der endgültigen Schließung des Bergwerkes zurück nach Bukarest gebracht.

Zurück in ihrer Heimat hatte sie allerdings niemanden mehr. „Mein Vater war nicht mehr am Leben – er hatte Selbstmord begangen, weil er nicht verkraften konnte, dass seine Kinder deportiert wurden“, erzählt Creţu. „Meine Mutter war mit meinem Bruder, der schon eher aus der Gefangenschaft entlassen wurde, in die Moldau gezogen, weil er dort Arbeit gefunden hatte.“

Ana Creţu kam zunächst bei einer Schulfreundin unter, bevor sie zu Mutter und Bruder zog. Wenig später kam sie wieder zurück nach Bukarest, wo ihr ein Job bei der Nationalbank vermittelt wurde, bei der früher schon ihr Vater gearbeitet hatte.

Sie brauchte allerdings eine Weile, bis sie mit ihrem neuen Leben in der Freiheit zurecht kam. „Für mich war alles so konfus, in den fünf Jahren hat sich alles verändert“, erklärt sie. „Eine neue Regierung, ein neues Regime – die Einstellungen und Ideen des Kommunismus waren mir bis dahin völlig unbekannt gewesen. Es war oft sehr verwirrend für mich.“

Nur wer es erlebt hat, versteht es

Sie heiratete und bekam Tochter Magdalena, die bei dem Treffen im Schillerhaus neben ihr sitzt und die Mutter immer wieder ermutigt, zu erzählen und zwischendurch an Details erinnert. „Natürlich haben wir über ihre Zeit in Gefangenschaft zu Hause gesprochen. Seit ich etwa zehn Jahre alt war, erzählte sie mir vom Arbeitslager, aber es war schwer für mich, nachzuvollziehen, was sie mir da berichtete“, so Magdalena. „Ein Kind kann das nur schwer verstehen und auch jemand, der so etwas nicht erlebt hat, kann das schwer verstehen“, wirft Ana Creţu ein.

Magdalena erzählt, dass die Mutter früher Freundinnen hatte, die ebenfalls Zwangsarbeit in der ehemaligen Sowjetunion leisten mussten, beispielsweise ihre Patentante. „An jedem Feiertag und Geburtstag kamen sie zusammen und irgendwann fingen sie an, über die vergangenen Zeiten zu erzählen“, klagt sie. „Ich fragte dann immer: Feiern wir jetzt oder was machen wir hier?“ Sie sieht ihr Mutter an und beide müssen lachen.

Das „krasse Erwachen“ aus der Jugend

Wie Ana Creţu spricht auch Willi Bartel kein Deutsch. „In der Familie wurde die deutsche Sprache zwar gesprochen, aber ich habe meistens auf Rumänisch geantwortet“, erklärt er. „Meistens war ich der einzige, der nicht Deutsch sprach, weil ich nicht wollte.“ Doch es gibt noch weitere Parallelen zwischen den beiden: auch Willi, wie Ana geboren und aufgewachsen in Bukarest, wurde in ein Kohlebergwerk deportiert, allerdings nach Engels, benannt nach dem Philosophen und kommunistischen Revolutionär Friedrich Engels, in der Wolgaregion. „Es war damals das erste Mal, dass ich von diesem Mann gehört habe“, erklärt Bartel mit einem kleinen Lächeln.

An den Tag seiner Deportation erinnert sich der hochgewachsene, schlanke Mann als wäre es gestern gewesen: „Es war am 13. Januar 1945 um sechs Uhr morgens. Auch meine zwei Brüder und meine Schwester mussten mit. Wir wurden direkt aus dem Bett abtransportiert.“ Zu diesem Zeitpunkt war er 17 Jahre alt, meine „Blütezeit“, wie er sagt, denn man war unbeschwert und ging oft zu Tanzveranstaltungen. „Das Arbeitslager war dann das krasse Erwachen.“

In Engels verbrachte er drei Jahre. Sechs Tage die Woche arbeitete er, schleppte beispielsweise Baumstämme, einen Tag hatte er frei. „Ich habe immer versucht, die Schwerstarbeit zu machen, denn dann bekam man dreimal am Tag etwas zu essen“, erzählt der heute 86-Jährige. Die Jüngeren mussten ohnehin die schwereren Arbeiten erledigen, während die Alten im Lager für weniger kräfteraubende Aufgaben eingesetzt wurden.

Der Tote bot die Gelegenheit

Willi fiel es jedoch schwer, sich mit seinem Schicksal im sowjetischen Arbeitslager abzufinden. „Ich habe die ganze Zeit überlegt, was ich machen könnte, um dort wegzukommen“, erzählt er. Irgendwann traf er auf einen deutschstämmigen Ingenieur, der abgemagert war und depressiv. „Da kam mir erstmals der Gedanke, dass man so etwas in der Art vorspielen könnte“, sagt Bartel. „Ich beschloss, den Irren zu spielen, um dort wegzukommen.“
Nur kurze Zeit später bekam er die Gelegenheit, seinen Plan in die Tat umzusetzen: Der Ingenieur zog sich eine Verletzung zu und verstarb wenig später im dortigen Krankenhaus. Nun musste dessen Leiche abgeholt werden und da Willi an diesem Tag frei hatte, beschloss er, mitzugehen. Es war bereits Nacht, als er allein ins Totenhaus ging – kein anderer wollte diese Aufgabe übernehmen.

„Es war ein sehr dunkler langer Gang, an dessen Ende eine Tür war, hinter der der Leichnam aufbewahrt wurde“, erzählt er mit leiser Stimme. „In dem Zimmer herrschte eine düstere Atmosphäre, der Mond schien durch das Fenster hinein.“ Plötzlich verfehlte er eine Treppe, geriet ins Stolpern und fiel über die Leiche. Er begann zu schreien. „Natürlich war auch Angst mit im Spiel – aber ich habe mir bei dem Geschrei schon etwas gedacht“, erzählt Willi.
Von diesem Moment fing er an, seltsame Sachen zu machen: „Ich ging auf den benachbarten Friedhof und brachte ein Kreuz mit ins Lager, so dass alle dachten, ich hätte durchgedreht“, erklärt er. „Aber ich dachte an meine Eltern, dass sie zu Hause sitzen und alle vier Kinder sind weg. Ich wollte, dass zumindest eines zurückkehrt.“

Später wurde er ins Krankenhaus gebracht, doch auch da fuhr er mit seinem Schauspiel fort. „Ich schmiss einen Tisch zu Boden und riss ihm ein Bein heraus.“ Als eines Tages eine Kommission im Krankenhaus erschien, warf er einige Glasgefäße in ein Fenster. „Es war ein großer Radau, keiner wusste, was los war“, erzählt Bartel.

Schließlich wurde er in ein anderes Krankenzimmer verlegt und bekam Beruhigungsmittel. Doch da sich sein Zustand nicht zu  bessern schien, wurde er bald auf die Liste der Alten und Kranken gesetzt, die nach Rumänien zurückkehren durften. Er hatte sein Ziel erreicht, denn normalerweise wurden nur jene auf diese Liste geschrieben, deren Arme oder Beine erfroren waren oder die hohes Fieber hatten.

Schock für die Mutter

Bevor es in die Viehwaggons zum Rücktransport ging, wurden die Menschen noch einmal durchgezählt. Tatsächlich fragte der Beamte Willi Bartel, ob er wirklich wahnsinnig sei, oder ob er alles nur vorgespielt hätte. „Er war der einzige, der festgestellt hatte, dass das alles nur Theater war“, erzählt Bartel und lacht.

Zurück in Bukarest ging er sofort zu seinem Elternhaus. „Als meine Mutter die Tür öffnete, fragte sie mich, wen ich denn suche“, erzählt er. „Ich fragte sie dann, ob hier nicht ein junger Mann namens Willi wohne.“ Es sollte eine  behutsame Vorbereitung auf das, was nun folgen würde, sein. Damit der Schock für die Mutter nicht zu groß würde, denn noch trug er eine russische Mütze, die er nach seiner Befreiung bekommen hatte, war unrasiert und ungewaschen. „Erkennst du mich denn nicht mehr“, habe er dann gefragt. „Als meine Mutter plötzlich verstand, wer ich war, brach sie in Tränen aus und ihr wurde ganz übel. Auch ich weinte und mir wurde übel“, erzählt Bartel und verfällt in Schweigen.

Nach ein paar Minuten resümiert er seine Zeit in russischer Gefangenschaft: „Das war mein Leben in einer Zeit, in der ich eigentlich tanzen oder spazieren gehen sollte, eine Krawatte und gebügelte Hosen tragen sollte.“ Ein Fazit, das ihn nachdenklich zu stimmen scheint. Nur wenige Monate nach seiner Rückkehr nach Bukarest wurde Willi Bartel in die rumänische Armee eingezogen. Das unbeschwerte Leben musste noch warten.