„Ich hoffe, noch lange...“

Zum Briefwechsel Manfred Winkler – Hans Bergel

Manfred Winkler (links) und Hans Bergel in Israel im November 2011

Manfred Winkler/Hans Bergel - „Wir setzen das Gespräch fort. Briefwechsel eines Juden aus der Bukowina mit einem Deutschen aus Siebenbürgen.“ Herausgegeben und mit einem Nachwort von Renate Windisch-Middendorf. Frank & Timme Verlag für wissenschaftliche Literatur, Berlin, 350 Seiten, ISBN 978-3-86596-381-9, 28 Euro

Unter dem Titel „Wir setzen das Gespräch fort...“ erschien vor Kurzem im Berliner Frank&Timme Verlag der „Briefwechsel eines Juden aus der Bukowina mit einem Deutschen aus Siebenbürgen“. Die Autoren sind der deutsch-hebräische Lyriker Manfred Winkler (geb. 1922 in Putilla) und der Erzähler und Essayist Hans Bergel (geb. 1925 in Rosenau). In den ersten zwei Briefen des Bandes (1994) fassen sie die fast vier Jahrzehnte zusammen, die seit ihrer ersten Begegnung bis zur Wiederaufnahme der Korrespondenz verlaufen waren. Im Brief 124 (2010), der das Buch abschließt, fragt Manfred Winkler: „Sind wir nicht ein gutes, ein bemerkenswertes Duo?“ Über den umfangreichen Schriftwechsel und die beständige Freundschaft sprach KR-Redakteurin Christine Chiriac mit Dr. h. c. Hans Bergel.


Sie lernten Manfred Winkler 1956 in Bukarest kennen. Er emigrierte 1958 aus Rumänien nach Israel, Sie 1968 nach Deutschland. Wie war es, als Sie sich 1994 „wiederentdeckten“?

Es war, als wären nicht achtunddreißig Jahre, sondern drei Tage vergangen.

Wie erklären Sie das?

Mit dem altmodischen Wort „Seelenverwandtschaft“. Lässig ausgedrückt: „Die Chemie stimmt“ zwischen uns.

Haben Sie vergleichbare politische und literarische Erfahrungen und Ansichten?

Politisch begegneten wir beide den zwei bestimmenden Terrorsystemen des 20. Jahrhunderts – dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus –, jeder von uns mit der gleichen Konklusion: Opposition in beiden Richtungen. Hinsichtlich der Literatur: Winklers Lyrik in deutscher Sprache – ich kann nicht Iwrith – tat es mir sofort an, als ich erste Gedichte las. Umgekehrt scheint es ihm mit meiner Prosa ebenso ergangen zu sein. Darüber kann in unseren Briefen nachgelesen werden.

Wie kam es zur Veröffentlichung der Korrespondenz?

Manfred Winkler wurde dazu angeregt. Er rief mich an und fragte: „Was hältst du davon?“ Der Frank& Timme Verlag sagte nach der Probelektüre einiger Briefe sofort zu. Die Auswahl trafen wir beide in „Telefonkonferenzen“.

Welches sind die bevorzugten Themen der Briefe?

Alles, was zwei lebenserfahrene und selbstständig denkende Männer beschäftigt. Politik, Literatur, dazu Religion, Philosophie, Krieg und Frieden, Gegenwart und Zukunft unserer Länder, der Mensch, die gesellschaftlichen Veränderungen, der Zustand der Kirche, die Natur und anderes.

Gibt es etwas, was Sie sich scheuen, Ihrem Freund gegenüber auszusprechen? Oder umgekehrt?

Nein. Er teilte mir seine Ansichten z. B. über mich, über Deutschland mit, ich ihm meine über den – unlösbaren – israelisch-arabischen Konflikt, diese offene Wunde.

Ihr Freund schreibt: „Ein Brief von Dir ist immer wieder –  wie – ein Echo meiner selbst.” Gibt es trotzdem auch Bereiche, in denen Ihre Meinungen auseinandergehen?

Selbstverständlich gibt es sie, wennschon sich der Jude und der Christ beispielsweise in der Frage „Gott“ einig sind. Unser gegenseitiges Verständnis beruht im Grunde auf unserer gegenseitigen Ergänzung.

Wo Winkler eine andere Sicht der Dinge hat als ich, widerspreche ich nicht, ich ergänze. Umgekehrt gilt das Gleiche. Verstünde sich jeder Dialog auf diese kultivierte Weise, gäbe es in der Welt weder Streit noch Krieg, weder Fanatismus noch Hass.

Der Verlag nennt das Buch „eine einzigartige Dokumentation“. Was ist damit konkret gemeint?

Zunächst, so vermute ich, ist eine jüdisch-deutsche Korrespondenz von dieser Intensität, Offenheit und Unverkrampftheit seit 1945 nicht eben die Regel. Zudem gibt es im Bereich südosteuropäischer Literaturen keinen vergleichbaren Briefwechsel. Schließlich auch keinen, der so viele an den Südosten und zugleich an ganz Europa gebundene Fragen anspricht und dabei Blickwinkel aufzeigt, die nicht zur Norm gehören – die ganz und gar außerhalb der erbärmlichen „political correctness“ liegen.

Ihr Freund bezeichnet Sie in einem Brief als einen Deutschen, der in Deutschland keine Heimat gefunden habe. Wie stehen Sie dazu?

Wir aus den so genannten „Rändern“ Europas sehen eine Reihe substantieller Fragen anders als Europas „Mitte“. Da ich meine, dass unsere Sicht die realistischere ist, bin ich nicht bereit, sie preiszugeben.

Die großen Fehler des vergangenen Jahrhunderts wurden nicht an der Peripherie, sondern im Zentrum des Kontinents gemacht – die Peripherien wurden dann hinein gerissen und mit den Folgen allein gelassen. Ich sehe keinen Grund, mich wider besseres Wissen und Gewissen anzupassen. Das wurde mir in Deutschland zur „Heimatlosigkeit“. Im Übrigen bin ich der Meinung des kürzlich verstorbenen Wiener Kabarettisten Georg Kreisler: „Die Kunst ist mir Heimat genug.“

Wieso kann der mitteleuropäische Leser Ihrer Meinung nach das „dramatische Vielvölkergewusel einer südosteuropäischen Landschaft“ (Brief 10) nur teilweise verstehen?

Das hat zunächst historische Gründe. Mittel- und Westeuropa haben den Südosten während der Jahrhunderte islamischer Bedrohung – durch die Türken – im Stich gelassen. Die lange Fremdherrschaft erzeugte bei den südosteuropäischen Völkern Denkweisen und Daseinshaltungen, die dem Mittel- und Westeuropäer fremd blieben, da er nie in vergleichbarer Lage lebte. Heute gibt es zudem eine gewisse Herablassung des Mittel- und Westeuropäers, den „Balkan“ zur Kenntnis zu nehmen.

Das versperrt ihm erst recht den Weg zum Verstehen. Hinzu kommt schließlich die ihm ebenso ungewohnte Vielvölkergesellschaft in den Ländern des Südostens, die ihm fast unheimlich ist. Er versucht, das Ungewohnte mit Hilfe ideologischer Konstrukte zu begreifen – die der Südosteuropäer nur belächeln kann. Und nicht zu vergessen die transatlantische Orientierung – der Amerikanismus besonders des Mitteleuropäers: Der Südosten interessiert ihn nicht. Mehr dazu hier nicht. Es ist ein zu weites Feld.

Manfred Winkler ist der Meinung, „irgendwie sind wir alle karpatensüchtig“. Sind Sie es? Ist in diesem Sinne Siebenbürgen „Ihre Heimat“ geblieben, wenn Deutschland es nicht geworden ist?

Ich mache mir nichts vor: Es fällt mir weder ein, meine Wurzeln zu verleugnen, noch die Augen davor zu verschließen, dass die Emigration 1968 nach Deutschland meine letzte Rettung vor dem kommunistischen Zugriff war. Ich ging nicht freiwillig aus diesem Land fort. Ich wurde durch Verfolgung und mehrfaches Einkerkern hinaus gepresst. Mir blieb kein anderer Weg, sofern ich überleben wollte – und das wollte ich. Die Freiheit steht als Lebenswert über der Heimat; ich verlor Siebenbürgen als Heimat, ohne eine „neue“ Heimat gesucht zu haben. „Karpatensüchtig“ bin ich – genau so wie Winkler – insofern, als mir die Prägungen bewusst sind, die ich dort erhielt.

„Ich hege mehr denn je Zweifel an den Menschheitsidealen“, schreibt Manfred Winkler. „Und dennoch werden wir nach wie vor für das Gute und Schöne, das Wahre und Rechte auf die Barrikaden gehen müssen, da ansonsten die Welt den Raubtieren unter uns ausgeliefert ist“  (Brief 3). Sie ergänzen einige Jahre später: „Auch der globale Schock der roten und braunen Bestialitäten bewirkte nichts. Ich weigere mich, daran zu glauben, dass der Mensch aus der Geschichte lernt.“ Eine Frage aus Sicht der Jugend: Kann die Welt vor den Raubtieren gerettet werden?  

Nein. Im Roman „Die Wiederkehr der Wölfe“ spreche ich genau davon. Ich halte es für einen fatalen Fehler, jungen Menschen mögliche Paradiese auf Erden vorzugaukeln. Es gibt nicht nur den Tag, es gibt auch die Nacht; nicht nur das Licht, auch den Schatten. Es gibt Gut und Böse – das ist die Kontrapunktik des Lebens, auch in uns selbst.

Die biblische Paradiesharmonie ist nicht mehr als ein Wunschtraum. Streit- und Schlaglüsterne, verräterische, doppelgesichtige Naturen, Wüstlinge und Fanatiker: „Raubtiere“ wird es immer unter uns geben. Dies zu erkennen und sich gegen sie zu stellen, ist moralischer Lebenssinn und praktischer Lebensinhalt. Dass jeder von uns die Seite wählen kann, auf der er steht, ist die großartige Freiheit, die wir dabei unter allen Bedingungen haben. Ist das nicht Verheißung genug für junge Menschen?

Kann man bei Manfred Winkler und Ihnen von einer fruchtbaren „deutsch-jüdischen“ oder „jüdisch-deutschen“ Zusammenarbeit sprechen?

Klingt das nicht zu plakativ? Nein, es ist eher ein bukowinisch-siebenbürgisches Duett, das sich zwanglos ergab. Wir haben den gleichen Herkunftsraum – den Südosten – und müssen uns einander nicht langatmig erklären: Der Jude und der Deutsche aus dieser Geografie haben vieles gemeinsam. Mit Winkler verbindet mich mehr als mit vielen Deutschen. Vice versa gilt das ebenso.

Besuchten Sie sich gegenseitig?

Das Ehepaar Winkler war seit 1994 zweimal bei Verwandten in Deutschland und jedesmal auch bei uns zu Gast. Meine Frau und ich reisten fünf- oder sechsmal kreuz und quer von Nord nach Süd und umgekehrt durch Israel, letztes Mal im Herbst 2011. Ich kenne das aufregende Land, seine Geschichte, seine enormen Probleme.

Im Briefwechsel erfährt der Leser Dinge, die er anderswo nicht zu lesen bekommt – was Sie z. B. über die Securitate-Aktenforschung schreiben, was Winkler etwa über Paul Celan äußert. Dachten die Autoren schon bei der Niederschrift der Briefe an deren Veröffentlichung?

Nicht im Traum. Das machte die Auswahl schwer: Viele Briefe wurden in spontaner Mitteilungseile verfasst, sie hätten um der allgemeinen Verständlichkeit willen stilistisch überarbeitet werden müssen. Andere wiederum sind so geschrieben, dass ihre Veröffentlichung ad hoc vertretbar erschien. Diese übernahmen wir in den Band.

Besteht Ihre Korrespondenz mit Winkler nach wie vor?

Ja, und ich hoffe, noch lange!