„Ich weiß nicht, wo ich zuhause bin!“

Die schönsten und schlimmsten Erinnerungen von Gábor Dombay in Kronstadt

Schätze eines Reisenden: Auf dem Kopf ein Oktoberfest-Hut aus München, auf dem Tisch eine sächsische Vase aus Siebenbürgen und eine Sandrose aus der Sahara. Foto: Philipp Mangold

Dombay in Aktion: Als Reiseleiter auf der „World Dubai“, der aus 300 kleinen Inseln nachgebauten Welt. Foto: privat

Es ist Mittag auf dem Marktplatz/ Piaţa Sfatului, am „Tag der Gendarmerie“. Popmusik knistert aus Polizeiautos, die hinter dem Brunnen geparkt sind. Davor etwa fünfzehn Polizisten; sie plaudern, lachen und beobachten die Tauben, die über den sonnigen Boden tanzen. Karawanen von Schülern ziehen Richtung Purzengasse/Republicii und kiebitzen, was die Polizisten machen. Sie laufen   einem Mann mit Baskenmütze vorbei, der unbemerkt am Rand des Platzes im Schatten steht und das Treiben durch eine undurchsichtige Sonnenbrille betrachtet. Ein blonder Schnurrbart ziert sein gebräuntes Gesicht. Ich gehe auf ihn zu. Das muss er sein. 

Auf den ersten Blick wirkt Gábor Dombay wie ein Westeuropäer auf Bildungsreise. Während wir ein Taxi suchen, zeigt sich jedoch, dass er Kronstadt besser kennt als so mancher Touristenführer: Welche Kirche wann erbaut wurde, welches Haus wann wem gehörte, wo es das beste Bier und wo das beste Abendessen gibt – Dombay weiß viel und redet gern. Mit der Routine eines langjährigen Reiseleiters würzt der 56-Jährige die Geschichte Kronstadts mit der Weltgeschichte und der eigenen Biografie. So erfahre ich von Gábor Dombays wildem Leben in Ost und West, in Deutschland, in Dubai – und immer wieder in Kronstadt.

Nahendes Unheil

1958 kommt Gábor Dombay als Sohn einer sächsischen Mutter und eines ungarischen Vaters zur Welt. Er lernt an einer deutschen Grundschule das Schreiben, als Ceauşescu Generalsekretär der RKP wird. Die Auswirkungen des Machtwechsels spürt Dombay erstmals auf dem ungarischen Gymnasium. Er und seine Mitschüler werden Zeugen eines Ceauşescu-Auftritts in Kronstadt, der rückblickend den Wandel der Zeit veranschaulicht: Bevor Ceauşescu auf dem Marktplatz eintrifft, sind die Gymnasiasten schon dort  und proben das Jubeln. Heute lacht man über solcherlei staatlich verordnete Weltfremdheit, damals hatten die Schüler Angst. Ihnen zeigt der inszenierte Jubel den bedrohlichen Kontrollwahn in Ceauşescus Rumänien. „Damals hat niemand gelacht“, sagt Dombay. Jeder fürchtete Polizei und Securitate. Gejubelt wurde in bedrückter Atmosphäre. „Man hatte zwei Meinungen: eine für die Straße und eine für zuhause. Man wurde gezwungen zum Doppeldenken.“ Dombay und die anderen Jubelnden lernen ihre Lektion. Ceauşescus Innenpolitik basiert auf Nationalismus und Angst.

Zwei Jahre nach Ceauşescus Kronstadt-Besuch kehrt Dombays Vater von einer Reise in die Bundesrepublik nicht nach Rumänien zurück. Die Familie erhält eine Ausreisegenehmigung, um dem Vater zu folgen. Sie ziehen nach Worms. Für Dombay bedeutet die Auswanderung die Trennung von seiner Jugendliebe. Wann er sie wiedersehen kann, obliegt von nun an den Behörden – diese entscheiden willkürlich, ob und wann Auswanderer wieder einreisen dürfen.

Manche Auswanderer warten drei Jahre auf eine Genehmigung, manche zehn. Die Liebe scheint verloren. Nicht nur darum durchlebt Dombay in Deutschland eine schwere Zeit. Auch die Sprache macht ihm zu schaffen. Zwar spricht er perfekt Deutsch, doch es klingt anders als das seiner Klassenkameraden. Seine deutschen Mitschüler meiden ihn. „Ich wurde sofort in eine Schublade gesteckt.“ Er freundet sich mit Einwanderern an, vor allem mit Polen. Erst als er studiert, ab 1978, gelingt es ihm, sich besser zu integrieren.

Ein Leben zerstört

Das Taxi hält, wir steigen aus und gehen zu ihm nach Hause. Er ist selten hier, offenbar ist Dombay selbst in seiner Wohnung nur Gast. Meist wohnt er bei seiner Freundin, der einstigen Jugendliebe, mit der er wieder vereint ist. So romantisch dies klingt – dass er heute mit ihr zusammenleben kann, ist die Folge eines grausamen Verbrechens. Während Dombay die Geschichte seiner Freundin erzählt, schüttelt er immer wieder den Kopf. Sein Tonfall ist resignierend; öfters rutscht er ins Falsett, als wolle er sagen: „Seht her, so wurden die Menschen hier behandelt!“ Tatsächlich ist die Geschichte schrecklich. Sie erzählt, wie Ceau{escus Politik das Leben einfacher Menschen zerstörte.

Während Dombay in Deutschland weilt, heiratet seine Jugendliebe in Kronstadt. Kurz darauf bekommt sie eine Tochter. Die junge Familie will nicht in Ceauşescus Rumänien leben – sie plant die Flucht. Ihr Mann würde die Donau nach Jugoslawien durchschwimmen und von dort aus in den Westen fliehen. Frau und Tochter würden daraufhin die Ausreise beantragen, um ihm zu folgen. Der Plan klingt gut. Doch er geht schief. Ihr Mann wird verraten und verhaftet; was dann geschieht, ist bis heute ungeklärt. Fakt ist, dass ihr Mann ein anderer Mensch ist, als er aus der Haft entlassen wird. Er ist nicht mehr in der Lage zu arbeiten, sitzt nur noch zuhause und lebt von seiner Invalidenrente. Mit vierzig, zwanzig Jahre nach seinem Fluchtversuch, ist er nicht mehr ansprechbar. Kurz darauf, Anfang des neuen Jahrtausends, stirbt er.

Dombays Wohnung hat zwei Zimmer und zwei Balkone, von einem blickt man auf die Zinne. Im Wohnzimmer stehen eine grüne Couchgarnitur, ein Röhrenfernseher und dunkelbraune Schränke. „Das sind die alten Möbel meiner Oma“, sagt er und setzt sich auf einen dunkelgrünen Sessel. Im folgenden Gespräch wechselt er häufig den Sitz; geht es um Erinnerungen, wendet er sich dem Fenster zu, geht es um Politik, mir. Jetzt sitzt er dem Fenster zugewandt, hat die Beine übereinandergeschlagen und blickt in die Ferne...

Schmerzhafte Rückblicke

Er studiert Geografie und Sport auf Lehramt, in Frankfurt am Main. Dort findet er erstmals deutsche Freunde, wenn auch wenige. Noch immer ist er ein Exot. Darüber hinaus hat er Probleme mit der linken Frankfurter Studentenschaft: „Ich konnte mich unmöglich mit einem Sponti anfreunden, nach allem was ich in Rumänien erlebt hatte.“ Es drängt ihn in die Ferne: Er nimmt an Exkursionen teil und macht Urlaubssemester, bereist die USA, Australien, Kanada, die Fidschi-Inseln. Es tut ihm gut, unterwegs zu sein; auf Reisen fühlt er sich zuhause, mehr als in Deutschland oder Rumänien.

Derweil zieht sich sein Studium in die Länge, erst 1987 macht er sein Staatsexamen, neun Jahre nach Studiumsbeginn. Danach absolviert Dombay Praktika in Schulen im Frankfurter Raum – auf denen er feststellt, nicht zum Lehrer zu taugen: „Ich konnte die Kinder nicht bändigen.“ Eine bittere Erkenntnis. Erst auf Nachfrage spricht Dombay darüber, was er in den folgenden Jahren tut; über seinen Seelenzustand schweigt er. Man kann ihn sich ausmalen: Das Studium war umsonst, das Lernen vergeblich, die Zukunft ungewiss. An diesem Punkt in seinem Leben könnte er den Kopf in den Sand stecken – tut er aber nicht. Dombay mag zwar kein optimistischer Mensch sein – aber er ist einer, der nicht aufgibt. Er weiß, irgendwie geht es immer weiter. Also jobbt er, drei lange Jahre, als Kellner, Fahrer und Hähnchenverkäufer. Er wartet geduldig auf seine Chance. Plötzlich passiert, was kaum jemand für möglich hält: 1990 kommt die Wende. Für Europa. Und für Dombay.

Schwieriges neues Leben

1990 findet Dombay einen Beruf, der wie für ihn geschaffen scheint: Reiseleiter. Er tut nun das, worauf er sich im Studium, teils unbewusst, vorbereitete: Er reist und lehrt. „Touristen sind ja auch Schüler“, sagt er und meint: Mein Studium war doch nicht umsonst. Im Auftrag deutscher Reiseveranstalter ist er unterwegs, häufig in islamischen Ländern, Türkei, Tunesien, Ägypten. Er lernt andere Kulturen kennen, und deutsche Gäste. Zum Beispiel den bei einer Türkeireise: Der Gast beschwert sich, das Zirpen einer Grille hindere ihn nachts am Schlafen.

Dombay tut, was er kann, veranlasst für ihn drei Zimmerwechsel. Doch das Problem bleibt. Ende der Geschichte: Der Gast verklagt den Reiseveranstalter. Weil Grillen tun, was sie in der Paarungszeit eben tun: zirpen. „Wenn irgendetwas nicht stimmt, dann sind deutsche Gäste bereit, ihren Urlaub zu opfern und sich 24 Stunden am Tag dem Problem zu widmen“, sagt Dombay. Dann bilden sich Beschwerdeführer heraus, die jeden Mangel protokollieren, Unterschriften sammeln und Neuankömmlinge auf Probleme hinweisen. „Die gehen auf neue Touristen zu und erzählen ihnen, der Pool hat 19 Grad statt 23.“ Trotz dieser Gäste arbeitet Dombay bis heute als Reiseleiter – mittlerweile vor allem in Dubai. In den Neunzigern ist er weiterhin auch privat viel unterwegs: So reist er nach Australien, um dort Ungarn ausfindig zu machen. Und, ab 1989, regelmäßig nach Kronstadt, um die Transformationsjahre mitzuerleben.

„Alle sind in den Westen gegangen, ich bin so oft wie möglich hergekommen“, sagt Dombay und lacht. Er erlebt die Neunziger als Jahre des Aufbruchs, der Euphorie. „Die Menschen begrüßten die Demokratie.“ Diejenigen, die sie aus dem Westen kennen, geben ihr Wissen weiter. Dombay stellt einer Schule seine Bücher und Spiegel-Ausgaben zur Verfügung. Plötzlich springt er von seinem grünen Sessel auf und geht zum Bücherregal. „Das musst du lesen!“ Er zieht ein braunes, gebundenes Buch hervor und blättert darin herum. „Da steht, warum es gekommen ist, wie es gekommen ist.“ In diesem Augenblick wird sichtbar, wie groß seine Hoffnungen damals waren – und wie groß darum heute seine Enttäuschung ist.

Statt der Demokratie kamen korrupte Politiker und westliche Unternehmen. „Dem Westen ging es nur darum, den rumänischen Markt zu erschließen, um hier Profit zu machen.“ Heute gebe es in Siebenbürgen alle westlichen Produkte, aber nur wenige Menschen, die sie sich leisten könnten. Das Geld, das diese Wenigen für westliche Produkte ausgeben, lande im Westen; das Geld von Steuerzahlern und EU bei Politikern, die sich selbst bereicherten. Auf diese Weise werde Siebenbürgen kleingehalten. Dabei könnte alles ganz anders sein.

Ewiger Wanderer

„Siebenbürgen ist ein gelobtes Land“, sagt er. „Vom Potenzial könnte es eine zweite Schweiz sein.“ Eine zweite Schweiz: ein mehrsprachiger, politisch neutraler Touristenmagnet; ein gefragter Außenseiter, der überall geschätzt ist, aber nirgendwo dazugehört – das wäre ein Land nach Dombays Geschmack. Doch die Politiker raubten Siebenbürgen seine Chance, ja, seinen Geist, indem sie das Rumänische privilegierten und den Minderheiten die Gleichberechtigung verwehrten. Von der EU ist er  enttäuscht: „Ich weiß nicht, wo das Auge des Westens ist.“ Dombay schaut resigniert aus dem Fenster und schweigt. Er sitzt auf dem Sessel, auf dem einst seine Großmutter saß, in einer Wohnung voller Möbel aus einer anderen Zeit. Vielleicht täuscht der erste Eindruck nicht, den Dombay erweckt. Auch wenn er zurückgekehrt ist an den Ort, an dem er aufwuchs; auch wenn er wiedervereint ist mit seiner Jugendliebe und beruflich zufrieden als Reiseleiter in Dubai – angekommen scheint Gábor Dombay nicht. „Ich weiß nicht, wo ich lebe, wo ich zuhause bin. Wahrscheinlich bin ich ein ewiger Wanderer.“