Im Protestlager Vulturilor 50 seit einem Jahr

Ganze Familien leben mitten in Bukarest nach Zwangsräumung auf der Straße

So sieht es auf der Vulturilor-Straße 50 ein Jahr nach der Zwangsräumung des inzwischen abgerissenen Gebäudes aus.
Foto: Arnold Schlachter

15. September 2014: Es ist ein heftiger Tag in der Bukarester Vulturilor-Straße 50. Ungefähr 150 Menschen müssen ihre Wohnungen verlassen, die zwangsgeräumt werden. Das 2300-Quadratmeter große Gelände mit einem Gebäudekomplex in Wert von ungefähr 3 Millionen Euro wurde schon vor 12 Jahren an die Privateigentümer Ion Harsia  und  Ligia Veturia Zank zurückerstattet. Es sind meistens Roma, die von der Räumung betroffen sind. Gemäß dem Gesetz durften sie ab dem Moment der Rückerstattung weitere fünf Jahre Miete an die Eigentümer bezahlen und in dem Gebäude bleiben. 2007 haben die Eigentümer das Gelände an die Beratungsfirma SC New Bridge Partners SRL verkauft. Die Bewohner haben weiterhin dort gelebt – diesmal ohne rechtliche Grundlage. Sie konnten es sich nicht leisten, eine Wohnung auf dem freien Markt zu mieten oder zu kaufen. Es ist verboten, dass Menschen auf die Straße gesetzt werden, ohne dass ihnen eine Ersatzwohnung zur Verfügung gestellt wird. Die Behörden konnten keiner der insgesamt 27 Familien eine Wohnung anbieten. Ein Vorschlag war, die Familien zu trennen – die Frauen sollten mit den Kindern ins Zentrum für misshandelte Mütter gehen und die Männer in ein Zentrum, in dem sie sich nur nachts aufhalten dürfen.

15. September 2015: Die Leute brauchen die Hilfe des Staates. Sie sind Sozialfälle, erklärt die gemeinsame Front für das Recht auf Wohnung (Frontul Comun pentru Dreptul la Locuire) immer wieder und lädt zur Protestkundgebung ein. Es ist ein sonniger Vormittag auf der Bukarester Vulturilor-Straße – ein kleiner Junge treibt sein Plastikdreirad mit seinen Beinen voran, in der Sonne liegt eine Matratze auf ein paar Backsteinen auf dem Bürgersteig. Alte Holzstühle stehen vor ein paar Hütten aus allerlei Materialien, die ihre Bewohner vor der Nummer 50 gefunden haben. An der Wand einer Hütte hängt noch ein Plakat: „Wohnungen für alle, unabhängig von der Ethnie!“ Dort, wo früher die Häuser standen, sind nur noch Ruinen hinter einem eisernen Zaun zu sehen: Die Gebäude wurden abgerissen.

Als der Gebäudekomplex zwangsgeräumt wurde, sahen die Leute keine andere Lösung, als auf der Straße zu schlafen. Unterstützt wurden sie von verschiedenen Nichtregierungsorganisationen – erst mit Decken, dann mit Winterzelten. Sie wohnen jetzt in selbst gemachten Hütten aus alten Materialien, haben keinen Strom, keine Heizung und Wasser bekommen sie von ihren Nachbarn. Ungefähr 30 Menschen wohnen noch auf dem Bürgersteig der Vulturilor-Straße. Für sie hat sich innerhalb des letzten Jahres nichts geändert. In dem Lager leben u. a. Kinder, Babys und behinderte Menschen. Ihr Leben folgt anderen Regeln: Nachts werden Taschenlampen benutzt, die Akkus laden sie bei den Nachbarn auf. Gekocht wird nur tagsüber. Das Wasser bleibt in Fünf- oder Zehnliterflaschen den ganzen Tag in der Sonne stehen – so wird es lauwarm und kann abends zum Waschen benutzt werden. „Oder wir gehen in das Bad Griviţa, da kann man sich duschen“, sagt Aurora Nicolae (43), die mit ihrer Familie in einer solchen Hütte wohnt.

Das Zentrum für misshandelte Mütter? Ein Luxus

Aurora hat vier Kinder und drei Enkelkinder. Als ihre Wohnung zwangsgeräumt wurde, bekam sie die Möglichkeit, gemeinsam mit ihrem jüngsten Sohn, in einem Zentrum für misshandelte Mütter zu wohnen. „Ich lebe mit meinem Mann seit fast drei Jahrzehnten zusammen. Wie könnte man auf die Idee kommen, mich von meiner Familie zu trennen?“, sagt Aurora. Für eine kurze Zeit wohnte sie in dem Zentrum. Ihrem jüngsten Sohn (14) hätte es gut gefallen, er wäre gerne dort geblieben, für ihn war das alles Luxus. Trotzdem kam Aurora jeden Tag zur Hütte in der Vulturilor-Straße, um für ihren Mann zu kochen. Jetzt leben Mutter, Vater und Kind zusammen in der Hütte. Sie fühlen sich ausgegrenzt, weil sie Roma sind. Im letzten Jahr haben die Betroffenen alles versucht: Sie haben mit den Medien und Vertretern der zuständigen Behörde gesprochen, sie haben protestiert und die nötigen Gesuche eingereicht, um ein Dach über den Kopf zu bekommen. Die Anträge müssen jährlich erneuert werden. Die Bewohner wissen jetzt Bescheid: Sie sind auf einer Warteliste.

25. September 2015: Gegen Mittag herrscht eine bizarre Ruhe auf der Straße: Polizisten warten in kleinen, strategisch positionierten Gruppen. Der Gerichtsvollzieher sitzt auf einem Plastikstuhl neben ein paar Frauen, die seit einem Jahr auf der Straße in Holzhütten leben. Ein Bulldozer steht vor dem Hauptgebäude still. Das letzte Gebäude auf der Vulturilor-Straße wird ohne Vorwarnung zwangsgeräumt: Es ist ein Vier-Quadratmeter-Bau. Die Bewohner wurden um sieben Uhr morgens vom Gerichtsvollzieher Lucian Gonţ und einer ganzen Truppe Polizisten geweckt: „Sie müssen jetzt sofort alle ihre Habseligkeiten rausbringen“. Es muss alles in Kürze zusammengerafft werden, die Genehmigung ist nur noch ein paar Tage gültig, sagt Gonţ. Von den Gebäuden wird nur die Außenwand bleiben, denn sie stützt die Hütten der Menschen, die auf der Straße wohnen.

Die Antworten

In einem Antwortschreiben seitens des Bürgermeisteramtes des dritten Bezirks wird erklärt, dass 22 Familien in der Vulturilor -Straße Gesuche eingereicht haben. Es wird versichert, dass sie Priorität gegenüber anderen Anträgen hätten. Das Amt informiert weiterhin über die Angebote der Direktion für soziale Betreuung und Kinderschutz im dritten Bezirk – etwa finanzielle Unterstützung für die Miete oder eine Unterkunft in einem Notzentrum für Erwachsene seien möglich. Das Bürgermeisteramt verwaltet fünf Sozialwohnungen, in denen Leute leben, die vorher zurückerstattete Häuser bewohnt haben. In den letzten 10 Jahren hat das Bürgermeisteramt des dritten Bezirks insgesamt 33 Sozialwohnungen vom Stadtbürgermeisteramt übernommen. Diese werden jedes Jahr anhand einer Prioritätenlisten verteilt. Alles hänge von der Anzahl der Wohnungen, die vom Stadtbürgermeisteramt angeboten werden, ab.
Valerică Enache,  Vizepräsident der Roma-Partei Pro Europa im dritten Bezirk, erklärt, dass er versucht habe, den Leuten zu helfen und mehrmals mit den Vertretern des Bürgermeisteramtes Kontakt aufgenommen habe. Nicoleta, die seit einem Jahr auf der Vulturilor-Straße vor der Nummer 50 wohnt, beschreibt ihre Erfahrungen unter www.jurnaldin vulturilor50.org. In ihrem neuesten Artikel berichtet sie, dass auch der Bürgersteig in Kürze „zwangsgeräumt“ werden soll. Der Bürgersteig ist öffentlicher Raum und die Leute müssen weg.

30. Oktober 2015:  Die 38-jährige Maria Ion, die beim Brand des Clubs Colectiv ums Leben gekommen ist, wohnte früher in einem Haus, das zurückerstattet worden ist. Sie arbeitete zwei- bis dreimal pro Woche schwarz im Club als Putzfrau. Allein kümmerte sie sich um ihre fünf Kinder und ihren Vater. Um eine Sozialwohnung vom Bürgermeisteramt hat die Frau 10 Jahre lang Anträge gestellt. Ohne Erfolg. Bis vor ein paar Tagen: Zwei Tage nach Marias Tod haben ihre fünf Kinder eine Wohnung vom Interims-Oberbürgermeister Dan Ştefănel Marin im Rahmen einer Live-Übertragung im Fernsehen bekommen: „Es ist heute Abend eine Ehre für mich, euch den Schlüssel einer Drei-Zimmer-Wohnung im Namen des Generalrats und des Bürgermeisteramtes von Bukarest anbieten zu können“, sagt der Oberbürgermeister und umarmt eines der Kinder. Das Publikum klatscht.