In der Schnee- und Seelenwüste Bukarests

Cristi Puius jüngster Film „Sieranevada“ in den rumänischen Kinos

Cristi Puius jüngstes kinematografisches Werk, das im Hinblick auf die nächste Verleihung der Academy Awards bereits als Oscar-Kandidat für den besten fremdsprachigen Film gehandelt wird, spielt nicht, wie sein Titel „Sieranevada“ nahelegen könnte, in den Schneebergen Andalusiens oder Kaliforniens, sondern im winterlich verschneiten Bukarest. Die Schneewüste entpuppt sich hier als Seelenwüste und damit ist man auch schon mitten in der filmischen Welt Cristi Puius, wie man sie bereits von „Aurora“ her kennt, wo der Regisseur ebenfalls zugleich als Drehbuchautor in Erscheinung trat. Auf eine Rolle als Hauptdarsteller hat Cristi Puiu in „Sieranevada“ zwar verzichtet, aber mit seinen 173 Minuten steht dieser Streifen Puius seinem vor sechs Jahren entstandenen Werk „Aurora“ an Dauer kaum nach.

Wenn man vom Gewackel der Handkamera einmal absieht, könnte man Puius Film „Sieranevada“ in die Nähe und Tradition der Dogma-Filmbewegung rücken, die sich unter anderen folgender Prinzipien befleißigte: authentischer und bisweilen kruder Realismus, nur Originalschauplätze als Drehorte, Verzicht auf Spezialeffekte und künstliche Beleuchtung, Verzicht auf zeitliche und lokale Verfremdungen, Absage an den Genrefilm. Bei Cristi Puiu kommen dann noch überlange Einstellungen (wie etwa in der Straßenszene am Beginn von „Sieranevada“) hinzu, die den Zuschauer auf einen Film ohne Handlung im eigentlichen Sinne einstimmen. In der engen Wohnung, in der sich dann der größte Teil des Filmgeschehens vollzieht, verzichtet die Kamera (Barbu Bălășoiu) grundsätzlich auf die Totale, arbeitet vielmehr fast ausschließlich mit Groß- und Nahaufnahmen und schreckt auch nicht davor zurück, in dunkle Zimmer hineinzufilmen oder die Schauspieler oftmals nur in Rücken- und Teilansichten wiederzugeben. Immerhin gelingt dem Regisseur damit ein nahezu aristotelisch zu nennendes Werk, das Ort, Zeit und Handlung zu einer größtmöglichen Einheit zusammenbindet.

Wie in Thomas Vinterbergs Film „Das Fest“, so geht es auch in Puius „Sieranevada“ um eine Familienfeier, allerdings nicht um ein Geburtstagsfest, sondern um eine Feier zum Andenken an den verstorbenen Vater, eine Art Seelenamt, das auf Rumänisch „parastas“ genannt wird. Während bei Vinterberg jedoch sukzessive ein schreckliches Familiengeheimnis gelüftet wird, enthüllt sich dagegen bei Puiu vielmehr ein allgemeiner Zustand der rumänischen Gesellschaft. Während Vinterbergs Film um den Nukleus einer verdrängten und verschwiegenen Tat zentriert ist, reiht Puius „Sieranevada“ eine Episode an die andere, um die Befindlichkeit von Individuen unterschiedlicher Altersgruppen in der rumänischen Gegenwart ans Licht zu bringen: da ist die ehemalige Parteiaktivistin, die die Errungenschaften der Ceaușescu-Ära verteidigt, da ist der Anhänger von Verschwörungstheorien, der 9/11 als gelungene Inszenierung hinstellt, aus der die Amerikaner politisches Kapital schlagen, da sind die Internet-Adepten, die ohne Facebook und Google keinen Schritt tun möchten, und natürlich sind da die Familienmitglieder und ihre zahlreichen Probleme (Generations-, Beziehungs-, Paar-, Berufs-, Jugend- und Altersprobleme), die in Puius Film einen breiten Raum der Darstellung finden. Im Gegensatz zu Vinterbergs „Fest“, wo das Essen im Mittelpunkt steht, könnte man „Sieranevada“ als verhindertes Festmahl begreifen, denn das Essen und die Totenspeise (rum. colivă) werden zwar aufgetischt, dann aber wieder abgetragen und verteilt; erst ganz am Ende wird das Festessen, und zwar nur von den drei Söhnen des Verstorbenen, auch tatsächlich genossen. Mittelpunkt der Filmhandlung ist vielmehr die Seelenmesse, die von einem mit zunehmender Ungeduld erwarteten Popen schließlich am Familientisch zelebriert wird und die die permanenten Streitereien unter den verschiedenen Familienmitgliedern für wenige Minuten schönen liturgischen Gesangs wohltuend unterbricht.

Wie in einer Nummernoper, so reihen sich in „Sieranevada“ einzelne, nicht selten komisch und humoristisch wirkende Szenen aneinander, die durch lange Durststrecken zähen Handlungsgeplänkels und ruheloser Kameraschwenks miteinander verbunden sind: Dazu zählen die Szene mit Mutter und Sohn und dem elektrischen Trimmfahrrad (Mimi Brănescu und Dana Dogaru), die Szene mit der betrogenen Ehefrau (Ana Ciontea und Sorin Medeleni), die Szene mit der Parteiaktivistin und der schluchzenden Tochter (Tatiana Iekel und Judith State), die Parkplatzszene (Andi Vasluianu und Cătălina Moga) und noch viele andere Szenen, die bei den Zuschauern für Heiterkeit sorgen, auch wenn in ihnen ein tragischer Unterton mitschwingt.

Getragen wird der Film von einer Reihe von hervorragenden Schauspielern, die, vor allem in der älteren Generation, auch Theaterschauspieler sind und den Zuschauer im Moment und an den Moment zu fesseln vermögen, auch und gerade weil dem Film als Ganzem das geistige Band fehlt, das die einzelnen Handlungsstränge in stringenter Weise zusammenbinden könnte. Kürzungen hätten dem Film auf jeden Fall gut getan, diese hätten zu einer Steigerung und Intensivierung, ja zu einem echten Filmerlebnis führen können, wie folgende Sequenz in „Sieranevada“ beweist: Auf die Szene, bei der Lary (Mimi Brănescu) und Laura (Cătălina Moga) von dem aggressiven Mihăiță (Andi Vasluianu) gewaltsam von ihrem Parkplatz vertrieben werden, wobei der Drehbuchautor tief in die unterste Schublade unflätigster Beleidigungen greift, folgt unmittelbar eine zweite Szene, bei der Lary seiner Frau Laura von einem Erlebnis mit seinem Vater in der Kindheit erzählt und dabei auf die ubiquitäre Lüge zu sprechen kommt, die alles, die Vergangenheit wie die Gegenwart, und letztlich auch ihre eigene Ehe umgibt. Von einer turbulenten, burlesk-komischen Szene stürzt der Zuschauer also mit einem Male in eine andere voller tragischer Melancholie, atemlose Hatz wandelt sich unversehens in atemloses Schluchzen.


Durch gekonnte Schnitte hätte „Sieranevada“ insgesamt eine Dynamik gewinnen können, die zu echter Dramatik geführt hätte. Der Grund für dieses (Sich-)Versagen ist bei Cristi Puiu vermutlich dogmatisch begründet und rührt wahrscheinlich von seiner entschlossenen Weigerung als Regisseur her, stärker ins Material einzugreifen und den Stoff deutlicher zu komponieren. Dass sich Authentizität und Konstruktion, Realitätsdarstellung und Kunstwille nicht notwendig gegenseitig auszuschließen brauchen, zeigte jüngst etwa Puius Regiekollege Cristian Mungiu in „Bacalaureat“, und zeigte vor elf Jahren Cristi Puiu selbst in „Moartea domnului Lăzărescu“ (Der Tod des Herrn Lăzărescu). Hier, nicht in dem mit „Aurora“ eingeschlagenen Weg, läge der Ausgangspunkt für ein Filmschaffen der Zukunft, das authentische Erfahrung und künstlerische Gestaltung gekonnt zu verbinden wüsste.

Dass Cristi Puius „Sieranevada“ dennoch internationaler Erfolg beschieden sein könnte, dürfte dann wohl darauf zurückzuführen sein, dass den Zuschauern im westlichen Ausland die Gebräuche, die sich um eine rumänische Seelenmesse („parastas“) ranken, gänzlich unbekannt sind und ihnen vielleicht absurd vorkommen mögen. Absurdität ist aber bereits ein bewährtes kulturelles Exportprodukt Rumäniens. Wer bindet schon Taschentücher an Kerzen, wer serviert schon Speisen, die nicht gegessen, sondern nur aufgetischt und dann wieder weggetragen werden, wer lässt sich schon beim Seelenamt einen Anzug anmessen? Da muss es sich wohl um echte absurde Kunst handeln – oder um authentische rumänische Wirklichkeit.