Islamistisches „Lob der Torheit“

Dem Buch „2084. Das Ende der Welt“ (2015) des Algeriers Boualem Sansal (68) bescheinigt der oft provozierende Gegenwartsschriftsteller Michel Houellebecq („Unterwerfung“), einen „echten religiösen Totalitarismus“ zu „beschreiben“. Ein Buch zu sein, „härter als `Unterwerfung`“. „2084“ ist eine Replik auf George Orwells „1984“. Statt des (untergegangenen) Kommunismus ist der Islam Zielscheibe der Fabel, die, schriftstellerisch perfektibel, im Kern treffend, spannend und gnadenlos weitergedacht ist bis zu einer „Diktatur ohne Geschichte“. Die Bewohner Abistans leben nur im Heute. Sie werden „von einer degenerierten Form einer funkelnden Religion“ lebensbestimmt, die sie verwandelt hat aus „armseligen unnützen Gläubigen in glorreiche und profitable Märtyrer“, für welche „Gehorchen, Unterwerfung, Amnesie, Überwachung, Geduld, Ignoranz, Schnelljustiz“ das Leben bestimmen – im Rahmen des gesetzlich angeordneten Zweifel-Verbots in einer stillstehenden Zeit.

Parabel, Pamphlet? Das Buch des Ex-Staatssekretärs der algerischen Regierung ist für Nicht-Moslems eine Offenbarung – vergleichbar einer auf den Kopf gestellten „Laus Stultitiae/Moriae encomium“ – „Lob der Torheit/Narrheit“ des Erasmus (Stultitia: „Die Torheit tritt auf und spricht: Mögen die Menschen in aller Welt von mir sagen, was sie wollen – weiß ich doch, wie übel von der Torheit auch die ärgsten Toren reden –, es bleibt dabei: Mir, ja mir ganz allein und meiner Kraft haben es Götter und Menschen zu danken, wenn sie heiter und frohgemut sind“). Was beim Renaissance-Moralisten von Rotterdam humorige Entrüstungstiraden wider die Sünden der Menschheit sind, ist in Boualem Sansals Phantasiereich Abistan lebensgefährlich: Jeder persönliche Gedanke wird geächtet, das Überwachungssystem (Abi, der Erdengesandte des unbarmherzigen Yöllah, wird als allessehendes Auge dargestellt) ermöglicht sofortiges Erkennen der Abweichler. Oder ihrer Taten. Zweifel ist verboten. Schweigen ist Selbstmord. Die Diktatur stemmt Regeln und perfekt kodifizierte Rituale. Es gibt keine Geschichte. Nur Gegenwart. Ein einziger Mensch, Ati, beginnt, zaghaft, zu zweifeln. Abistan könnte daran implodieren. Wachsamkeit geht über alles. Ati wird geholfen, die Grenze Abistans – laut offizieller Ideologie gibt es die gar nicht, denn „Abistan ist mit seinen 60 Provinzen weltumspannend“ – zu überschreiten. Zweifler müssen weg.

Zufällig las ich das mehrfach preisgekrönte Buch des Algeriers während der Unruhen im Süden der USA, die von Präsident Trump, auf Anraten seines (nachmalig gefeuerten) Chef-ideologen Stephen Bannon, so grottenschlecht kommentiert wurden, dass der US-Präsident den bisherigen Tiefpunkt seiner Popularität erreichte. Das Buch und die US-Demos machten deutlich: Auch religiöser Fanatismus, konsequent auf die Spitze, zum Terrorismus, getrieben – nicht nur des Islam (Sansal erwähnt ihn gar nicht) – und Rechtsextremismus („Die Juden werden uns nicht ersetzen!“ brüllten unterm Hakenkreuz Ultrarechte in Charlottesville) führen zu denselben Gefahren: Aufweichung demokratischer Spielregeln (siehe Ungarn und Polen), (Zer-)Störung des institutionellen Aufbaus (Folgen des Brexit), Misstrauen in die Kraft demokratischer Staaten, emotionale und sicherheitspolitische Erschütterungen (Attentate). Unschwer erkennt man die Zielrichtung des ISIS-Terrorismus: Zersetzung des demokratischen Toleranzmodells – wie die „illiberalen Zielsetzungen“ eines Orbán oder Kaczýnski – auch wenn die Rhetorik der Geistesbrüder als Ziel Beendigung des Terrors angibt. Die Ideologie des Terrorismus und die Extremismen jeder Couleur bauen auf dieselben mentalen, sozial-ideologischen Bausteine: Intoleranz, rassische und ideologische „Reinheit“, Hass auf alle Minderheiten, Glorifizierung des tradierten Familienmodells, Stigmatisierung des Unterschieds, das Ideal einer in sich geschlossenen, exklusiven Gesellschaft.