Kaum noch Deutsche, hohes Interesse an Deutsch

Faszinierende Einblicke in deutsche Geschichte, Germanistik und Deutschunterricht auf dem Balkan und im Schwarzmeerraum

Prof. Dr. Hermann Scheuringer (2.v.l.) und Dr. Maria Muscan (1.v.l.) bei der Eröffnung. Foto: die Verfasserin

Deutschtum und Migration – zwei Begriffe, die nicht nur heute in enger Beziehung stehen. Siedler aus dem deutschen Sprachraum drangen schon vor Jahrhunderten weit ins östliche Europa vor. Deutsche Sprachinseln finden wir im Schwarzmeerraum in der Ukraine, der Republik Moldau, Transnistrien, sogar in Georgien, Abchasien, Aserbaidschan. „Armenien hat eine große Tradition des Deutsch-Gelehrtseins, in Eriwan gibt es seit Langem ein deutsches Haus“, überrascht Prof. Dr. Hermann Scheuringer, Leiter des Forschungszentrums DiMOS und Organisator der Konferenz „Deutsche Sprache und Kultur in Bessarabien, Dobrudscha und Schwarzmeerraum“, die vom 11. bis 13. April an der Ovidius-Universität in Konstanza/Constanța stattfand.


Drei Tage Vorträge und intensive Diskussionen zwischen Experten aus allen Bereichen der germanistischen Forschung - Linguistik, Literatur, Übersetzung, Didaktik - aus Deutschland, Österreich und dem östlichen Europa: Die vortragenden Wissenschaftler und DeutschDozenten kamen aus Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Nord-Mazedonien, der Republik Moldau und Transnistrien. Organisiert wurde die Tagung vom Forschungszentrum für Deutsch in Mittel-, Ost- und Südosteu-ropa (DiMOS) an der Universität Regensburg und dem Forschungszentrum für Germanisten in der Dobrudscha (CCDG) an der Ovidius-Universität.


Keine Armuts-einwanderung nach Bessarabien


Wer sind diese Schwarzmeerdeutschen, um die sich alle Themen auf der Tagung ranken, von denen heute aber nur noch sehr wenige übrig geblieben sind? Ute Schmidt von der Freien Universität Berlin erzählt ihre Geschichte. „Fromme und tüchtige Leute“ sollen sie gewesen sein, die deutschen Siedler, die ab 1814 auf Einladung von Zar Alexander I. Bessarabien kolonisierten. Das Zarenreich hatte von den Osmanen Teile des nördlichen Schwarzmeerraums erobert, die im Krieg stark verwüstet wurden. Der Norden Bessarabiens war von Moldauern bewohnt, der Süden fast menschenleer. Einwanderer waren nötig, um die wirtschaftliche Entwicklung in der neuen russischen Provinz voranzutreiben. Gezielt warb man um qualifizierte Bauern und Handwerker, „nutzlose Künstler“ und arme Schlucker waren unerwünscht. „Es war keine Armutseinwanderung“ präzisiert die Expertin. „Viele brachten große Summen Bargeld und wertvolle Gegenstände mit, die aber schnell verbraucht waren oder verloren gingen.“


1813 zogen die ersten 200 Familien aus Preußen nach Bessarabien. Die zweite große Migrationsbewegung fand 1816-1817 statt, darunter viele religiöse Dissidenten, die bis in den Kaukasus strebten, wo einer Johannes-Offenbarung zufolge für 1836 die Wiederkehr Christi auf dem Berg Ararat und der Beginn eines tausendjährigen Friedensreichs angekündigt war. 1822 gründeten katholische Abtrünnige in Bessarabien die Gemeinde Sarata, Zentrum einer religiösen Erweckungsbewegung.

Die Ansiedlung der Kolonisten war ein Modellversuch. Die Deutschen sollten ein Beispiel für freie Bauernschaft sein, für die Russen wurde die Leibeigenschaft erst unter Alexander II. abgeschafft. Mitten im autokratischen Zarenreich genossen sie das Recht auf Selbstverwaltung und kulturelle Autonomie, eigene Schulen und Kirchen. Eine russische Behörde mit Amtssprache Deutsch wurde eigens gegründet, um sich um ihre Belange zu kümmern. Zwischen den Deutschen und anderen ethnischen Gruppen – bulgarische Einwanderer mit ähnlichen Rechten, Lipowaner, Moldauer, Ukrainer – herrschten gute Beziehungen und ein reger Austausch bezüglich Handel und Arbeitskraft.


Weil russisches Erbrecht galt, wo das jüngste Kind den Hof erhielt, wurden die älteren Nachkommen der deutschen Bauern Handwerker oder schlossen sich zusammen, um Tochterkolonien zu gründen. Bald wurde das fruchtbare Schwarzerdeland in Bessarabien knapp. Dies und historische Umwälzungen - der Verlust ihrer Rechte im Zarenreich 1871, die Aufhebung der Befreiung vom Wehrdienst 1874, die Wirren des Ersten Weltkriegs, die Enteignungen von 1915, durchgeführte (1924) oder nur geplante Deportationen nach Sibirien (1915/16) - führten zu Auswanderungswellen.


1940 wurden im Zuge des Hitler-Stalin Pakts schließlich alle Bessarabien- und Dobru-dschadeutschen „Heim ins Reich“ geholt. 93.500 Menschen aus Bessarabien landeten in 800 Verteilungslagern auf dem Balkan. Einige wurden ins deutsche Reich geschickt, andere erhielten im besetzten Polen die Höfe der dort Vertriebenen und mussten 1945 flüchten. 1942 wurden die bessarabiendeutschen Männer zur Wehrmacht eingezogen. An die 9000 fielen an der Front.

Die ausführliche Geschichte der Bessarabiendeutschen rekapituliert eindrucksvoll die Ausstellung von Ute Schmidt und Ulrich Baehr im Foyer der Germanistikfakultät, die bereits 2015 in Bukarest gastierte (ADZ-Online 18.7.2015: „Lächelnd und gottergeben“).


Von Russland in die osmanische Dobrudscha


Die Dobrudschadeutschen wanderten ab Mitte des 19. Jh. aus Bessarabien und den neurussischen Gouvernements Taurin, Cherson und Jekaterinoslaw, wo sie ihre Privilegien verloren hatten, in die damals osmanische Dobrudscha ein. Vorrangiges Motiv: die Suche nach Land. Viele versuchten ihr Glück zuerst in der Moldau und der Walachei. Doch erst in der Dobrudscha wurden ihnen seitens der Osmanen keinerlei Schwierigkeiten bei Ansiedlung und Landkauf bereitet, berichtet Josef Sallanz, DAAD-Lektor an der Universität Creangă in Chișinău. Gesiedelt wurde dort meist in türkischen und tatarischen Dörfern, jede Ethnie hatte ihr Viertel. 80 Prozent der Dobrudschadeutschen waren in der Landwirtschaft tätig, 14 Prozent als Handwerker. Intellektuelle gab es wenig, denn ein starker Geburtenüberschuss führte wegen der dort üblichen Landteilung zu einer raschen Verarmung der Bauern. Die Höfe wurden immer kleiner und konnten ihre Besitzer bald nicht mehr ernähren.


1940 wurden auch die Dobrudschadeutschen „Heim ins Reich“ geholt. Die Verträge wurden am 22. Oktober zwischen dem Deutschen Reich und Rumänien gänzlich ohne deren Beteiligung unterzeichnet. In den Verteilungslagern wurden Dorfgemeinschaften auseinandergerissen. Es gab lange Wartezeiten, oft bis zu zwei Jahren. Auch sie wurden auf enteigneten Höfen in Polen und Tschechien angesiedelt und 1945 von dort vertrieben.


Die fast vergessenen Dobrudschadeutschen


Zwei Filme illustrieren das Schicksal der Siedler: „Exodus auf der Donau“ zeigt erst die Verschiffung freigekaufter Juden die Donau hinunter, auf dem Weg nach Palästina, dann die der Bessarabiendeutschen stromaufwärts, gefilmt von Kapitän Nandor Andrasovits. In „Die Vergessenen“ von Adrian Drăgușin und Tiberiu Stoichici wandelt Ioana Cusin in den Dörfern der Dobrudschadeutschen - Atmagea, Groß- und Kleinmandschapunar, Tariverde, Cogealac, Malcoci, Ciucurova oder Culelie – auf ihren Spuren und sucht Zeitzeugen, die es kaum noch gibt. Von den wenigen Zurückgebliebenen spricht fast niemand mehr Deutsch.

Mit der Umsiedlung der Dobrudschadeutschen 1940 endete ihre Geschichte. Bei den heute dort lebenden Deutschen (2011 wurden 166 gezählt) handelt es sich um Zugewanderte, meist aus Siebenbürgen und dem Banat.


Rückgang durch Auswanderung und Assimilationsdruck


In den Siedlungsgebieten der Bessarabiendeutschen hingegen gibt es noch eine deutsche Minderheit, die jedoch durch Migration und Assimilation im Verschwinden begriffen ist. In Transnistrien bezeichneten sich bei der Volkszählung 1989 noch 4500 als Deutsche – 0,7 Prozent der lokalen Bevölkerung. Mit den Auswanderungsmöglichkeiten 1990 reduzierte sich ihre Zahl drastisch: 2004 gab es noch 2100, 2015 noch 1300, wobei weniger als zehn Prozent noch Deutsch sprechen. Heute geben nur noch 2,8 Prozent der ethnischen Deutschen Deutsch als Muttersprache an - die meisten auf dem Land. In der Stadt sei der Assimilationsdruck zu groß, erklärt Andrei Crivenco aus Tiraspol, der über deutsche Siedlungen in Transnistrien, ausgehend von den Kolonien Glückstal, Neudorf und Bergdorf beim heutigen Glinoe referierte.


Über die ethnische Struktur der Republik Moldau von der Thrakerzeit bis in die Gegenwart berichtete der Ethno-Geograf Dorin Lozovanu aus Chișinău. Er verrät auch, warum das südliche Bessarabien nach russischer Eroberung menschenleer war: Die lokale muslimisch-tatarische Bevölkerung stand loyal zu den Osmanen und wurde von den Russen deswegen deportiert. Ihr Land wurde nicht nur mit Deutschen, sondern auch Bulgaren, Gagausen und Griechen neu besiedelt. Interessant auch die demografische Entwicklung: 1897 gab es 60.206 Deutsche – 58.106 auf dem Land, 2100 in Städten. 1930 gab es 24 Mutterkolonien mit 81.089 Deutschen, 2,8 Prozent der Gesamtbevölkerung Bessarabiens. 77.733 lebten auf dem Land, 3336 in Städten; 74.870 waren evangelisch. 1989 gab es in der Republik Moldau noch 7335 Deutsche, von denen 2283 Deutsch als Muttersprache angaben. Heute sollen noch 3687 Deutsche dort leben, die jedoch eine aktive Gemeinschaft bilden: In Chi{in²u gibt es deutsche Organisationen und ein Kulturhaus. Ergänzend nennt Lozovanu die Bevölkerungszahlen der Dobrudaschadeutschen: 1900 waren es 8801, 1930 hatten sie sich auf 12.581 vermehrt, 2002 gab es nur noch 398.


Deutsche Schulen in Bessarabien und der Dobrudscha


Trotz der kurzen Geschichte der Dobrudschadeutschen und der Armut, die kaum akademische Größen hervorbrachte, gab es in der Dobrudscha fast 100 Jahre lang muttersprachlichen Unterricht auf Deutsch, berichtet Lektorin Maria Muscan von der Universität „Ovidius“. Seit 1840 bestanden die Dobrudschadeutschen auf einem eigenen Schulsystem, warben Lehrer aus Deutschland, Österreich, der Schweiz oder Siebenbürgen an. Ein Beispiel: der u.a. in Tulcea wirkende Lehrer und Wörterbuch-Autor Maximilian Schroff, über den Prof. Ioan Lăzărescu und Ileana-Maria Ratcu (Uni Bukarest) vortrugen. Um 1863 gab es in fast jedem Dorf eine deutsche Schule. Der Lehrer wurde mit wenig Geld und Getreideabgaben bezahlt. Sallanz erwähnte Dorfgemeinschaften, die sich keinen Lehrer leisten konnten. Der Unterricht wurde dann von einem Landwirt übernommen und fand oft nur im Winter, dann aber ganztätig, statt. Im Sommer gab es höchstens am Sonntag Unterricht. Deutschlehrer waren in der Dobrudscha am ärmsten, weil viele Kinder vom Schulgeld befreit waren, erzählt Muscan. Wie hoch im Kurs die Schultradition trotzdem stand, illustriert sie mit zwei Beispielen aus katholischen Dörfern: In Atamagea war Schulschwänzen ein Grund für den Ausschluss aus der Gemeinde. In Konstanza war die Konfirmation nur nach zwei Jahren regelmäßigen Schulbesuchs möglich.


In Bessarabien hatte sich ein anspruchsvolles deutsches Gemeinde-Kirchenschulsystem entwickelt. Es gab Mädchen- und Jungengymnasien und eine Lehrerbildungsanstalt, die sogenannte Werner-Schule, wenn auch mit turbulenter Geschichte: Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden die Deutschen dort als Kollaborateure des deutschen Reichs verdächtigt und sämtliche Schulen geschlossen. In der Zustimmungserklärung der Bessarabiendeutschen zur Großen Vereinigung mit Rumänien waren die deutschen Schulen wichtigstes Anliegen. Das Dekret vom 14. August 1918 sicherte ihnen wieder muttersprachlichen Unterricht in eigenen Schulen zu. Die Lehrerbildungsanstalt durfte als Kirchenschule mit öffentlichem Charakter weiterbetrieben werden. Trotz der Zusagen der rumänischen Regierung setzte ein systematischer Aushöhlungsprozess ein: Volksschulen wurden verstaatlicht, Gebäude konfisziert, Rumänisch als Unterrichtssprache eingeführt. Deutsche Lehrer wurden schikaniert, entlassen, statt dessen rumänische mit besonderen Vergüngstigungen eingestellt. Ab 1933 wurden gar keine deutschen Lehrer mehr eingestellt. Der Assimilierungsdruck war der Grund, dass die aus Siebenbürgen herüberschwappende nazistische Erneuerungsbewegung überhaupt eine Chance hatte, erklärt Ute Schmidt.


Warum man heute Germanistik studiert...


Heute gibt es in der Republik Moldau keine deutsche Schultradition mehr. Dass das Interesse am Germanistikstudium trotzdem hoch ist, geht aus den Diskussionen mit den moldauischen Dozenten hervor. Doch eigentlich wollen die Studenten nur Deutsch lernen, um ihre Berufschancen im Ausland zu erhöhen, erzählen diese. Germanistik wird mangels anderer Möglichkeiten und oft nur als Zweitstudium gewählt. Die Studenten beschweren sich dann über den mit Literatur überfrachteten Lehrplan, sie wünschen sich berufsorientiertere Studieninhalte, klagen die Dozenten. Kaum jemand studiert Germanistik mit dem Ziel, dies als Beruf auszuüben. Ähnliches gilt für andere Balkanländer. Gezim Xhaferi berichtet über Veränderungen im nordmazedonischen Bildungssystem: Im Gymnasium hat Deutsch als erste Fremdsprache das Französische längst überholt, wegen der hohen Nachfrage an Deutsch wurden neue Germanistikinstitute gegründet.
Themen wie historische deutsch-bulgarische Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen, Interkulturalität im Unterricht, das Bild des Balkans in den deutschsprachigen Medien oder Interferenzeinflüsse der Nachbarsprachen in die gesprochene deutsche Sprache und umgekehrt - Turzismen im Rumänischen; Begriffe aus der österreichischen Küche in Balkansprachen - runden das Bild ab. Dass die Konferenz in drei parallelen thematischen Säulen – Unterricht, Literatur und deutsche Kultur – mit ca. 50 Vortragenden stattfand, aber auch die lebhaften Diskussionen, zeugen von dem hohen Interesse der osteuropäischen Teilnehmer. Aber auch davon, dass Migration kein neues Phänomen ist. Gewandelt hat sich über die Jahrhunderte lediglich die Richtung.