Kein Bock mehr auf Uni?

Rumänien beklagt Halbierung der Studierendenzahlen

Symbolgrafik: pixabay.com

Ist den Abiturienten in Osteuropa die Lust am Studieren vergangen? Auf die Idee könnte man durchaus kommen, wenn man sich die Statistiken ansieht – beispielsweise die in Rumänien: Hier ist die Zahl der Studierenden innerhalb von gerade mal zehn Jahren um die Hälfte zurückgegangen, nämlich von einer Million auf nunmehr gerade mal noch rund 500.000. Diese Zahlen nannte der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis – und äußerte seine Besorgnis über diese Entwicklung. Um das Land nach vorne zu bringen, müsse die Jugend des Landes gut ausgebildet werden.
Seit Beginn des Wintersemesters Anfang Oktober ist hier, in den vielen Studenten-Kneipen im Temeswarer Studentencampus, wieder Leben eingekehrt: Doch nicht alle, die sich hier treffen, sind auch tatsächlich Studierende: „Ich bin LKW-Fahrer, mache gutes Geld damit, weil ich im Ausland fahre. Das hat sich wirklich gerechnet. Ich habe das Lyzeum abgeschlossen – und bin dann sofort LKW-Fahrer geworden“, sagt der junge Mann. Ilie Șandor, Anfang 30, nippt zufrieden an seiner Limonade. Neben ihm sitzt eine junge Frau. Amalia Pomian selbst studiert zwar im dritten Semester Jura. Allerdings weiß sie von vielen, die nach dem Abitur nicht auf die Uni gegangen sind. „Viele gehen gleich nach dem Abitur ins Ausland. Es ist ja so bei uns: Viele Eltern sind ohnehin schon im Ausland. Nach der Schule folgen ihnen ihre Kinder nach, jobben, machen gutes Geld im Ausland, werden finanziell unabhängig“, erzählt die Jura-Studentin.

Klar ist: Wer in Rumänien das Bakkalaureat macht, sitzt nicht zwingend ein paar Monate später in einem Hörsaal. Das war vor zehn Jahren noch völlig anders: 2007 waren an den rumänischen Unis rund eine Million Studierende eingeschrieben. Nun sind es nur noch halb so viel – Zahlen, die der rumänische Staatspräsident Klaus Johannis auf einer Tagung vorlegte. Diese neue „Null-Bock-auf-Uni-Haltung“ schlägt sich in manchen Studiengängen noch viel drastischer nieder.
„Als wir unsere deutschsprachige Abteilung für internationale und Europa-Studien an der West-Universität organisiert haben, also das ist zwölf Jahre her, hatten wir so ungefähr 60 bis 70 Studenten pro Jahr. Dieses Jahr waren es nur neun, das ist eine negative Dynamik, sozusagen“, so Professor Dr. Vasile Docea, Politikwissenschaftler an der West-Universität Temeswar. Diese neun Interessenten erhielten die Chance einer Neuorientierung und die einstige Vorzeige-Studienrichtung DAIBES hat 2017-18 keinen ersten Jahrgang.
Der Studierenden-Aderlass ist an den rumänischen Hochschulen gewaltig. Wer nach den Ursachen sucht, kommt allerdings zu einem äußerst überraschenden Ergebnis: Ausgerechnet weil das Bildungssystem besser geworden ist, gehen die Studierendenzahlen zurück. Ein Widerspruch? Nicht unbedingt. So wurden beispielsweise etliche der einst als „Diplomfabriken“ berüchtigten Privatuniversitäten geschlossen, die Abschlüsse nicht nur gegen entsprechende Prüfungsleistungen, sondern auch gegen Bares ausstellten. „Ja, die sind radikal zurückgegangen. Richtig. Ich glaube, sie sind nicht mehr fähig, wirtschaftlich zu überleben, die privaten Universitäten. Auch wegen der Anti-Korruptionsmaßnahmen kann man nicht mehr so einfach mit Diplomen oder Prüfungsergebnissen manipulieren“, sagt Docea.
Diejenigen Studierenden, die noch vor Jahren auf diese Weise zu ihren Diplomen kamen, fallen schon mal weg. Eine einschneidende Veränderung hat sich aber auch an den Lyzeen ergeben. Liviu Groapă war bis vor Kurzem Schulleiter am „Colegiul Tehnic Ion I.C. Brătianu Timişoara“, einem technischen Lyzeum: „Seit ein paar Jahren haben wir landesweit die Prüfungsbedingungen beim Bakkalaureat, also unserer Abiturprüfung, drastisch verschärft: Im Prüfungsraum wird eine Videoüberwachung installiert. Außerdem schauen wir genau darauf, dass die Schüler in der Prüfung nicht voneinander abschreiben können.“
Über Jahre hinweg wurde an vielen Lyzeen gegenseitiges Abschreiben sowie „Spicken“ von Zetteln und Smartphones geduldet, bis das Ganze von den Medien aufgegriffen wurde und in einen großen Skandal mündete. Nun, nach der Verschärfung der Prüfungsbedingungen, treten viele gar nicht mehr an – und fallen als potenzielle Studierende ebenfalls aus. Daneben gibt es aber weitere Ursachen, über die sich rumänische Bildungsverantwortliche schon eher sorgen: Seit über zehn Jahren ist Rumänien EU-Mitglied. Und daraus ergibt sich, so Vasile Docea von der West-Universität Temeswar, für junge Rumäninnen und Rumänen „die Lage, dass die Lyzeumsabsolventen im Ausland studieren können. Sie gehen sofort an Universitäten im deutsch- oder englischsprachigen Kulturraum. Und sie studieren dort“ – und eben nicht mehr an den Unis im eigenen Land.
Darüber hinaus hat sich der Arbeitsmarkt geändert: Viele Abiturienten wollen nach der Prüfung erst mal eines: Geld verdienen. Und dafür gibt es, sagt Ex-Schuldirektor Liviu Groapă, heute viel mehr Möglichkeiten als noch vor zehn Jahren. „Denken wir an die vielen Jobs im Tourismus, in der Gastronomie, in vielen anderen Bereichen: Es gibt heute eine Vielzahl von Stellen, wo man gutes Geld verdienen kann – ohne Studium, einfach nur mit mittlerem Bildungsabschluss, und mit etwas Fremdsprachenkenntnissen“, sagt der ehemalige Schulleiter. 
Ist das eine gesunde Entwicklung oder nicht? Darüber gehen die Meinungen in Rumänien auseinander. Unternehmen versuchen seit Längerem, Ausbildungs-Alternativen zum Studium auf den Weg zu bringen, weil in vielen Regionen Rumäniens bereits akuter Fachkräftemangel herrscht. Duale Ausbildung nach deutschem Vorbild wird angepriesen. Staatspräsident Klaus Johannis hingegen will über sein Projekt „Gebildetes Rumänien“ auch die Attraktivität des Hochschulstudiums im Land wieder steigern – wie genau, darüber zerbrechen sich die Fachleute derzeit noch die Köpfe.