Keine Schuld, sondern Bewusstsein

Die Fotografien von Sebastian Holzknecht regen zum Nachdenken an

Die Installation „not guilty“ ist Teil der gleichnamigen Ausstellung und zeigt die Bilderwand in Auschwitz-Birkenau. (Detail)

Alltag und Einsamkeit in der Umgebung von Tschernobyl.

Selbstporträt von Sebastian Holzknecht.
Fotos: Sebastian Holzknecht

Der Fotograf auf seiner Recherchereise in Ravensbrück.
Foto: Christine Chiriac

„Das Thema hat mich schon immer gefesselt. Und im Grunde genommen habe ich mich schon länger auf das Projekt vorbereitet – ich habe es nur nicht gewusst. Es hat schleichend angefangen und hat sich zur Lawine entwickelt.“ Das Projekt, an dem der 31-jährige Fotograf Sebastian Holzknecht alias „Nepomuk“ seit mehreren Jahren hingebungsvoll arbeitet, thematisiert das Leid von ehemaligen KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern aus Weißrussland, Polen, der Ukraine, Russland, Litauen und Deutschland, sowie die Orte, an denen sie in der Zeit des Dritten Reichs gefangen gehalten wurden. Mit seinen Fotografien möchte der österreichische Künstler einerseits an die Grausamkeit erinnern, die Menschen anderen Menschen zugefügt haben, andererseits will er zur kritischen Selbstreflexion im Holocaust-Gedenken auffordern.

Die Ausstellung „not guilty“ („nicht schuldig“), an der er gemeinsam mit dem deutschen Designbüro Uder Corporation und der freiberuflichen wissenschaftlichen Autorin Dr. Anne-Barb Hertkorn arbeitet, umfasst 41 Großformat-Porträts und elf Bildinstallationen, deren Maße teilweise bis zu drei Meter Länge betragen. Wichtig ist es dem Team, sich von der rein historischen, chronikalischen Sichtweise zu distanzieren und die künstlerische Substanz des Mediums Fotografie in den Mittelpunkt zu rücken. Über kreative Bildbearbeitung und Installationen sollen historische Ereignisse neu interpretiert und ein Aktualitätsbezug hergestellt werden. Der Start der Ausstellung wird voraussichtlich im Januar nächsten Jahres in Stuttgart stattfinden, doch wünschen sich die Autoren, die Werke weltweit zu zeigen. Zurzeit werden für das ambitionierte Projekt noch finanzielle Unterstützer und Kooperationspartner gesucht (Infos: www.exhibition-notguilty.com).

Sebastian Holzknecht selbst ist über Umwege zur Fotografie gelangt. Nach einigen Semestern Wirtschaftspädagogik und Politikwissenschaften studierte er Kommunikations- und Mediendesign in Innsbruck und absolvierte eine Ausbildung zum Meisterfotografen. Aktuell arbeitet er als Fotograf und unterrichtet als Fachlehrer in den Medien- und Modezweigen der Höheren Bundeslehranstalt für wirtschaftliche Berufe und am Medienkolleg Innsbruck.

In der Schule erlebte er den ausschlaggebenden Moment, der ihn zum Projekt „not guilty“ inspirierte: seinen 12- bis 14-jährigen Schülern vergab er mehrere Referatsthemen – eins davon über die dem Nationalsozialismus nahestehende Filmemacherin und Künstlerin Leni Riefenstahl. „Bei der Präsentation der Referate, als ich das Thema Holocaust anschnitt, hatten mehr als die Hälfte meiner Schüler keine Vorstellung, worum es ging“, sagt Sebastian Holzknecht.

Deshalb wünscht er sich, mit der Ausstellung „not guilty“ einen Rahmen für Menschen unterschiedlichsten Alters zu schaffen, „wo man auch grundsätzlich über gesellschaftsrelevante Themen wie Politik, Demokratie, Rassismus oder Menschenrechte debattieren kann, und wo der Blick auf die Gegenwart und Zukunft orientiert ist“, so der Fotograf. Die künstlerische Schwierigkeit bei der Arbeit an seinem Projekt sei vor allem die Proportion der Ereignisse gewesen: „Die Fakten, Relationen und Größenordnungen, mit denen man in Auschwitz konfrontiert wird, sind für den menschlichen Verstand nicht begreifbar; sie sprengen alle Grenzen des Vorstellbaren, trotzdem muss man versuchen sie darzustellen.“

Der Fotograf will sich also kreativ mit dem Thema auseinandersetzen und sich auf den menschlichen Aspekt konzentrieren. So erhofft er sich, die Geschehnisse und Erlebnisse der Zeitzeugen für das heutige Publikum anschaulich zu machen.

Die Inspirationsquelle für sein künstlerisches Konzept fand Sebastian Holzknecht auf der Reise ins polnische Oswiecim im Winter 2013. Im Maximilian-Kolbe-Zentrum in Harmeze besuchte er die Ausstellung „Labyrinthe“ von Marian Kolodziej, einem KZ-Überlebenden, der mit dem ersten Transport nach Auschwitz gebracht worden war und bis Ende 1944 in der Todesfabrik inhaftiert blieb. Nach fünf Jahrzehnte langem Schweigen über Auschwitz realisierte Kolodziej in den neunziger Jahren die großformatigen, erschütternden „Labyrinth“-Zeichnungen. „Für mich war es der emotionalste Moment meiner gesamten Recherche“, erinnert sich Holzknecht an den Besuch der Ausstellung. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie man das Ganze besser beschreiben könnte, als durch das Lebenswerk von Marian Kolodziej.“

Nach der Erfahrung in Harmeze fasste der junge Fotograf den Beschluss, sich an den zahlreichen visuellen Klischees, die das Thema Holocaust belasten, vorbeizuarbeiten. In der Gedenkstätte Auschwitz beobachtete er aufmerksam, wie die Besucher mit dem Medium Bild umgehen: „Es ist mir aufgefallen, dass es immer die gleichen Aufnahmen sind, die von Besuchern produziert werden: Stacheldrahtfotos, Arbeit-macht-frei-Fotos, Wachturm-im-Nebel-Fotos, Rosen-im-Schnee-Fotos. Ich habe versucht, auf alle bekannten Motive zu verzichten und neues Bildmaterial zu schaffen.“
Um Stereotype zu vermeiden, spielt Holzknecht auch gerne mit den Perspektiven. So etwa vor der Schwarzen Wand („Todeswand“) im Stammlager Auschwitz I, an der mehr als 20.000 Menschen ihr Leben verloren. „Alle Besucher, die ich beobachtete, haben die Todeswand als Objekt abfotografiert, jeder musste ein Bild davon haben. Für mich lag die Essenz dieses Ortes aber nicht in der Wand selbst. Es war stattdessen der Blick weg von ihr, denn das war die letzte Szenerie, die tausende Menschen vor ihrem Tod gesehen haben.“

Viele der Fotografien von Sebastian Holzknecht stellen zudem einen deutlichen Aktualitätsbezug her. So etwa sein Bild von dem Wachturm über dem Tor „Arbeit macht frei“ in Auschwitz I, auf dem eine Überwachungskamera installiert ist. „Der Wachturm ist offenbar das einzige Gebäude, das den gleichen Zweck hat wie früher, bloß dass es jetzt kein Soldat ist, sondern eine Kamera. Dieses Bild ist ein Verweis auf die aktuellen Diskussionen rund um die globale Überwachungsmaschinerie – ich hoffe, es wird den Dialog der Besucher fördern.“

Der Titel seines Projekts – „not guilty“ – soll signalisieren, dass es nach dem Ende der unmittelbaren Zeugenschaft nicht mehr darum geht, Schuldfragen zu klären bzw. Deutsche und Österreicher pauschal abzustempeln. „Für die nächste Generation ist es aus pädagogischer Sicht wichtig, dass die Menschen unbescholten an dieses Thema herangehen“, so Holzknecht, „und dass sie aus der Vergangenheit lernen. Dies geschieht aber nicht von alleine, es bedeutet sehr viel Arbeit und ist eine große Herausforderung. Mein Projekt verstehe ich auch als erweitertes Bildungsangebot.“

In dieser Hinsicht war für den Künstler die Recherchereise ins weißrussische Gomel, das rund zweihundert Kilometer von Tschernobyl entfernt liegt, sehr eindrucksvoll. Er fotografierte dort etwa 30 Personen, die als Kinder und Jugendliche zur Zwangsarbeit ins Dritte Reich deportiert wurden. Beeindruckt war der Fotograf vor allem von der Geschichte eines Mannes, der als Zwölfjähriger Zwangsarbeit für die Deutschen verrichten musste, dann in russische Gefangenschaft gelangte, von dort in ein sibirisches Arbeitslager deportiert und schließlich ins russische Militär einberufen wurde, um im Koreakrieg zu kämpfen. „Nachdem er seine Geschichte erzählt hatte, wurde der Mann wütend, stand auf, und ging“, erinnert sich der Fotograf. „Doch selbst wenn er sich nicht hat fotografieren lassen, möchte ich ihm in der Ausstellung eine Stimme geben. Deshalb gibt es 42 Porträts, aber auf dem zweiundvierzigsten ist niemand abgebildet.“

In Weißrussland hatte Holzknecht zudem die Möglichkeit, in die Sperrzone von Tschernobyl zu fahren. Seine fotografischen Eindrücke aus dem verseuchten, verlassenen Gebiet verarbeitete er zu einer Ausstellung, die er im November letzten Jahres in Österreich zeigte. Dies inspirierte ihn zu einem weiteren Vorhaben, das in den kommenden Monaten ansteht: die künstlerische Auseinandersetzung mit Fukushima. „Es ist erschreckend, wie wenig über die atomaren Katastrophen oder über den Holocaust diskutiert wird“, sagt Holzknecht. „Wenn ich im Bekannten- und Freundeskreis erzähle, an welchen Projekten ich arbeite, wird es manchmal sehr still. Für viele sind diese Themen Stimmungskiller, um die man offenbar nicht selten einen Bogen macht.“

Auch deshalb möchte Holzknecht mit „not guilty“ ein Zeichen setzen. Er lässt sich von Zeitaufwand, knappen Finanzierungen oder skeptischen Reaktionen nicht stören, sondern konzentriert sich, wie er sagt, „sturköpfig auf mein Ziel, die Ausstellung zu realisieren“. Die Ergebnisse lassen nicht auf sich warten: im Rahmen des Taylor Wessing Portrait Prize – einem der weltweit wichtigsten Porträtwettbewerbe für Fotografie, an dem heuer 1700 Fotografen teilgenommen haben – gehört ein Bild von Sebastian Holzknecht zu den besten 60, die von November bis Februar in der National Portrait Gallery in London zu sehen sein werden. Derweil schreibt der Fotograf an seiner Masterarbeit, in der es ebenfalls um die Repräsentation des Holocaust geht. Nächstes Jahr, sieben Jahrzehnte nach der Befreiung von Auschwitz-Birkenau, dürfte das auf großes Interesse stoßen.