Kind, wieso isst du nicht?

Jan Cornelius

Symbolfoto: freeimages.com

Meine Freundin Alida Bremer wohnt seit vielen Jahren in Münster, stammt aus Kroatien und ist eine begnadete Geschichtenerzählerin. In ihrem wunderbar witzigen Roman „Olivas Garten“ berichtet sie, wie ihr in Split hausender Vater im Laufe der Jahre immer wieder diverse Nahrungsmittel in den Westen schmuggelte, zum leiblichen Wohle der sich vermeintlich falsch ernährenden Tochter: blassgelbe, jungfräuliche Olivenöle, geräucherte Würste, runde Käselaibe, eine ganze Schinkenkeule mit Knochen und gar einen riesigen fangfrischen dalmatischen Oktopus. Zu Zeiten des Rinderwahns in Europa habe ihr Vater bei ihr in Münster angerufen und vorgeschlagen, ihr wöchentlich heimische, frisch panierte Schnitzel aus Split nach Düsseldorf zu schicken, per Flugzeug durch einen Lufthansa-Piloten, den Alida durch ihre Beziehungen gewiss flugs ausfindig machen würde. Für den hilfsbereiten Piloten würde der Vater freilich auch ein paar hübsche Schnitzel dazu legen. Alida konnte diese fragliche Rettungsaktion nur dadurch abwenden, indem sie auf die enorme Überlastung der heutigen Piloten verwies: Als Busfahrer auf den Küstenstraßen Kroatiens herumzukurven sei im Vergleich dazu das reinste Kinderspiel. Der Einwand Alidas, es würde ihr hier im Westen an Essen nicht mangeln, wurde stets mit dem knappen Kommentar abgeschmettert: „Ja, aber es schmeckt nicht so gut wie bei uns.“

Ich kenne diese Worte allzu gut. Eltern aus dem Osten Europas leben meist in der festen Überzeugung, ihre Sprösslinge würden, sobald sie in die Fremde gezogen sind, auf kurz oder lang ohne ihre Hilfe verhungern.
Als ich Anfang der 70er in Temeswar studierte, brachte mir meine Mutter regelmäßig, mit dem Zug anreisend, aus dem hundert Kilometer entfernten Reschitza ein knuspriges, am heimischen Herd zubereitetes Brathähnchen ins Studentenheim, wie auch eine selbstgemachte Schoko- oder Nusstorte, die nicht nur ich, sondern auch meine fünf Mitbewohner so sehr zu schätzen wussten, dass sie sie immer wieder ruck, zuck hinter meinem Rücken verschlangen.

Nun lebt meine Mutter längst in Deutschland und ist inzwischen 92 Jahre alt. „Du bist ja so abgemagert! Du musst unbedingt etwas mehr essen!“, meinte sie zutiefst besorgt, als ich sie vor einer Woche besuchte. Und als ich ins Feld führte, ich hätte allein im letzten Jahr um die acht Pfund zugelegt, entgegnete sie, auf Waagen sei kein Verlass. Schon drei Tage vor meinem Besuch hatte sich meine Mutter dran gemacht, verschiedene heimische Speisen vorzubereiten, und ich musste als Einstieg in das ausgedehnte Empfangsmahl eine kräftigende Hühnersuppe mit Griesnockerln in mich hineinlöffeln. Danach folgten tonnenweise Sarmale, das sind balkanisch-himmlische Kohlrouladen, und Szegediner Gulasch, mit Knoblauch, Kümmel und scharf-süßem, rotem Paprikapulver gewürzt, wie damals in Temeswar. „Ich wollte ja zwei, drei Gänge mehr zubereiten, aber ich hab’s nicht gepackt. Ich kann einfach nicht mehr so wie früher“, klagte meine Mutter. Als Nachspeise gab es dann Topfenstrudel und Palatschinken mit Honig und Nussfüllung, wie anno dazumal im heimatlichen Banat. Und während ich schwer atmend meinen Gürtel lockerte und zwei Verdauungstabletten in mich hineinwarf, hieß es: „Ach Kind, du hast ja wieder so wenig gegessen! Hat es dir nicht geschmeckt oder bist du etwa krank?“