Kinder wie ein offenes Buch lesen

Karin Gündisch präsentierte ihre Werke in der Bukarester Schule „Hermann Oberth“

„Ich sehe, einige von euch haben ein Buch von mir in der Hand, habt ihr das vielleicht gelesen?“, fragt die Autorin.

Kinder in der deutschen Privatschule „Hermann Oberth“ bei der Lesung von Karin Gündisch.
Fotos: Aida Ivan

Es ist ein heißer, hektischer Sommervormittag in Bukarest. Die Sonne brennt stark auf einen herunter, doch eine Oase der Ruhe und Eintracht findet man schnell in der deutschen Privatschule Hermann Oberth auf der Pipera-Tunari-Chausee 34: Im einen Saal sitzen Kinder schon auf ihren Stühlen mit Büchern in der Hand und warten auf die Autorin Karin Gündisch. Die Lehrerinnen geben ihnen die letzten Anweisungen, bevor die Dame mit sanfter Stimme und Holzköfferchen den Saal betritt: „Ich sehe, einige von euch haben ein Buch von mir in der Hand, habt ihr das vielleicht gelesen?“

 

„Jaaa“, antworten die Kleinen im Chor. Das Lesereiseköfferchen von Karin Gündisch enthält Bücher der Schriftstellerin, die sie der Reihe nach vorstellt. Die Autorin spricht von ihrem Leben in Siebenbürgen, in Bukarest und letztendlich in Deutschland. Sie liest einen Ausschnitt aus einem ihrer Bücher vor, stellt Fragen und zeigt kleine Erinnerungsstücke, die sie mitgebracht hat. Als erstes bekommen die Schüler eine Seite des Manuskripts des Buches „Das Paradies liegt in Amerika“ zu sehen. Und schon beginnt die interaktive Reise, die durch die verschiedenen Welten führt, die Gündisch für die Kinder erfunden hat. Die erste Station: die Geschichte von Astrid. Die Kinder erzählen die Geschichte zusammen mit der Autorin, anschließend zeigt Gündisch ein eckiges Objekt aus Holz – ob die Schüler den alten Federkasten aus Holz erkennen? Aus dem Federkasten holt die Autorin einen Füller heraus und erzählt dann die kurze Geschichte von Astrids Schreibinstrument. Die Schlussfolgerung bringt die Autorin ganz direkt zum Ausdruck: „Seht ihr, solche Geschichten könnt ihr auch schreiben!“

Geschichten über fiktive Figuren, die vom siebenbürgischen Alltag inspiriert wurden, spezifische Fragen zu den Erzählungen der Autorin und in Bezug auf die Geschichte der deutschen Minderheit in Rumänien sowie in Bezug auf Migration im Allgemeinen - man kann kaum glauben, dass eine Stunde schon vergangen ist, doch in diesem Augenblick erntet Gündisch gerade viel Beifall. Im Nu versammelt sich eine Schar von Kindern am Tisch der Autorin, damit sie ihre Bücher signiert.
Seit mehr als drei Jahrzehnten lebt Karin Gündisch als freie Autorin in Deutschland und nun auch wieder in Rumänien, in Michelsberg/Cisnădioara. Erhalten hat sie viele Preise, darunter den Rumänischen Kinderbuchpreis (1984), den Peter-Härtling-Preis (1984), den Kinderbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Berliner Senats (1992) sowie die Verdienstmedaille der Stadt Bad Krozingen (2010). Ihre Bücher wurden ins Englische, Französische, Rumänische, Japanische, Koreanische, Kroatische und Slowenische übersetzt.

„In den deutschen Schulen, die ich besuche, sind die Kinder ähnlich. Ich habe viele solcher Schulen weltweit gesehen. Hierher kommen Kinder, deren Eltern dem Lernen viel Aufmerksamkeit widmen“, meint die Autorin, die schon seit drei Jahrzehnten rund um die Welt reist und ihre Bücher vorstellt. Besucht hat sie im Laufe der Zeit viele Schulen in den USA, Kanada, Europa. An eine Ausnahme erinnert sie sich schon: Im nordamerikanischen Staat Mexiko hat sie Kinder kennengelernt, die alles hatten, was sich einer wünschen könnte, nur eines fehlte - das Bewusstsein, dass sie sich auch bemühen sollen. „Wenn ich eine neue Klasse kennenlerne, kann ich schon sagen, was für einen Lehrer diese Klasse hatte“, meint sie. Karin Gündisch war 14 Jahre lang Lehrerin und meint, sie könne Kinder wie ein offenes Buch lesen und gleich bemerken, ob der Lehrer eine gute Arbeit geleistet hat oder nicht.

Sie ist aber nicht die erste Schriftstellerin, die die deutsche Schule „Hermann Oberth“ besucht. Die Kinder hatten die Chance, mit Schriftstellern wie Mircea Cărtărescu, Ioana Pârvulescu und Adina Popescu in Kontakt zu treten. Die Autorin Ioana Nicolae hat sogar Lehrtätigkeiten aufgenommen, sie bringt den Schülern kreatives Schreiben bei. Auf dem Programm der Schule „Hermann Oberth“ stehen viele Veranstaltungen in den verschiedensten Bereichen: Zu den Schwerpunkten zählen Literatur, Kunst und Wissenschaften. „Wir wollen die Einbildungskraft der Kinder fördern“, sagt der Schulleiter, Florin Droc.

Er kann schon die Resultate aufzählen, auf die die Lehrer stolz sind: Im Schuljahr, das gerade zu Ende gegangen ist, wurde die Schule Hermann Oberth an der nationalen Olympiade für Deutsch als Muttersprache durch zwei Kinder vertreten, ein Schüler hat an der nationalen Olympiade für Mathematik teilgenommen und vier Kinder an der Olympiade für rumänische Literatur und Sprache. An Ausflügen mangelt es nicht, der Schulleiter erwähnt zwei Ausflüge nach Buzău zu den Schlammvulkanen und zum Bernsteinmuseum sowie eine Tour durch Piatra Neamţ, die unlängst organisiert wurden. Desweiteren soll ein Lager in der Maramuresch demnächst stattfinden. Auch während der Ferien werden Kurse organisiert: „Jedes Jahr gab es ein bestimmtes Thema für die Sommerkurse, heuer rücken in den Mittelpunkt die Fähigkeiten fürs Leben“, sagt Schulleiter Florin Droc.

Gefördert werden Neugierde und Begeisterung, Unabhängigkeit und Toleranz, die Pädagogen messen den individuellen Fortschritt jedes Schülers, Spielen ist wichtig und die Schüler werden ermutigt, sich Fragen zu stellen und sich alleine auf die Suche nach einer Antwort zu begeben. Die Herangehensweise der Schule erklärt der Schulleiter anhand eines Beispiels. Oft sei die Weise, wie man die Aufgabe übermittelt, sehr wichtig. Droc verrät, wie die Aufgaben attraktiver für Kinder gestaltet werden: Es bestehe ein großer Unterschied, ob ein Schüler einfach einen Aufsatz schreiben muss, der nicht mehr als 100 Worte haben soll, oder ob er diesen Aufsatz vor der Klasse in der Form eines Buches präsentieren soll. „Die Kinder mussten den Aufsatz in ein Buch binden, dem Buch im kleineren oder größeren Format einen Titel geben und zeichnen. Beim Schreiben werden leere Flächen  eingeführt, um eine Zeichnung hinzuzufügen, die repräsentativ für die Episode der Erzählung ist“, erklärt Droc. Dass der Schüler den anderen sein Buch vorstellen kann, ist für ihn ein Ereignis. Das ist einer der Schlüssel, damit der Schüler mit Freude an der Aufgabe arbeitet. Schon vor 10 Jahren wurde die Privatschule Hermann Oberth in Bukarest gegründet. Seit 2015 wurde auch das Gymnasium zugelassen, ab September 2016 gibt es drei Fachrichtungen mit Deutsch als Muttersprache - Mathematik-Informatik, Naturwissenschaften und Philologie.