Kirche und Politik an der Peripherie

Nachdenken über Zentrum, Peripherie, Grenzen, Vergangenheit und Gegenwart

Der bekannte österreichische Historiker für Neuere Geschichte an der Universität Wien, Prof. Dr. Alfred Kohler, und Dr. Ulrich A. Wien, der Organisator der Tagung.
Foto: Hannelore Baier

Es ist immer eine heikle Angelegenheit, über eine Tagung aus der „inneren“ Perspektive, d. h. als Referentin, zu schreiben, vor allem wenn diese auch noch parallele Sektionen hat, die laut den gängigen und immer noch gültigen Gesetzen der Physik nicht gleichzeitig besucht werden können. Gleichzeitig ist es aber eine Herausforderung, so zu berichten, dass das Ergebnis nicht wie die Reproduktion des Tagungsprogramms wirkt, sondern die Lücken und die Subjektivität der Wahrnehmung in Kauf genommen werden.
Eine Tagung mit dem Titel „Kirche und Politik an der Peripherie. Reformation und Macht an den ‘Grenzen’ der deutschen, protestantischen Einflusszone im Vergleich von Frühneuzeit und Gegenwart“ deckt ein umfangreiches Thema ab. Stattgefunden hat sie vom 25. bis 28. September in der Evangelischen Akademie Siebenbürgen in Hermannstadt/Sibiu. Wenn die Tagung im Rahmen der Plattform Refo500 organisiert wird, dann kann sie nicht im Elfenbeinturm der „reinen“ wissenschaftlichen Forschung bleiben, sondern muss auch das Thema Gesellschaft aufgreifen. Die Reformation als Forschungsthema der Historiker (im weiteren Sinn) stellt die Frage der Daseinsberechtigung nicht, aber wie steht es mit der Relevanz der Reformation für die sich immer stärker säkularisierende und pluralisierende Gegenwart? Somit hatte die Tagung auch eine konsistente gegenwartsbezogene Sektion, die sich mit dem Thema der Rolle der protestantischen Kirchen, vornehmlich als Minderheitenkirchen, im heutigen Europa auseinandersetzte.

Die Referenten aus verschiedenen europäischen Ländern haben sich, vornehmlich in der historischen Sektion, mit den Begriffen Zentrum, Peripherie und Grenze auseinandergesetzt. Dabei zeigte sich, dass die Reformation, die zumindest seit dem 19. Jahrhundert als deutsches Ereignis gesehen wurde, sich in einen west- und nordeuropäischen Prozess verwandelt hatte. Zentrum und Peripherie waren und sind überall. Die Reformation ist aus Kursachsen ausgegangen, aber die theologischen Auseinandersetzungen, die im 16. und noch im 17. Jahrhundert sozial und politisch relevant waren und das moderne Europa prägten, konnten das Verhältnis Zentrum-Peripherie durchaus neu ordnen. Dabei passt die Reformationsgeschichte nicht in das nationalstaatliche Ordnungsschema: Viele Reformatoren wirkten notgedrungen im „Ausland“, d. h. im Exil, in einer anderssprachigen Umgebung. Das Zentrum konnte somit im Exilland liegen, die Peripherie im Kernland.

Manche der Referenten mochten den Begriff „Peripherie“ nicht und arbeiteten lieber mit dem der „Grenze“, wobei der Begriff, der eben damals in Umlauf gesetzt wurde, nicht auf das Trennende hinweist: Grenzen können durchlässig oder vollkommen geschlossen sein und das war in der Frühen Neuzeit nicht anders. In den politisch-religiösen Entscheidungen spielte die subjektive Wahrnehmung der Grenze eine wesentliche Rolle (etwa für die Reichsstadt Straßburg im Grenzgebiet zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich). Grenzen konnten aber auch jene der eigenen Konfession sein, die schwerer zu überwinden waren als jene der Staaten. Wie ist überkonfessionelle und -staatliche Solidarität möglich, wenn es fast unüberwindliche dogmatische Unterschiede gibt? Dass die Überwindung der symbolischen Grenzen auch in unserer Zeit mühselig sind, haben die Beiträge über die Gegenwart bezeugt. Wie finden sich Religionsgemeinschaften zurecht, die einst die Mehrheit bildeten und heute eine Minderheit sind, wie die Protestanten in der Schweiz? Wie finden polnische Protestanten ihren Platz in einer nationalen Identität, die zunehmend vom Nationalkatholizismus geprägt wird?

Als der polnische Kunsthistoriker Jan Harasimowicz am Ende seines Vortrages über die Reformation in Schlesien erklärte, dass die Komplexität des Protestantismus in Polen von „uns, polnischen Katholiken“ erforscht wird, dachte ich an die Lage der Reformationsforschung in Rumänien. Wenn ein orthodoxer Theologe zur Zielscheibe der Fundamentalisten wird, weil er auf die Widersprüche und das Wunschdenken der traditionellen und kanonisierten Kirchengeschichtsschreibung hinweist, wird die Hinwendung an „fremde“ Glaubensgemeinschaften – nicht nur in der rumänischsprachigen – Geschichtsschreibung oft, und zwar beiderseits, als Verrat empfunden. Jenseits der psychischen Hindernisse gibt es aber massive technische Hürden.

Es ist heutzutage schon ein Glücksfall, wenn Studenten überhaupt Französisch können, denn außer dem Plastikenglisch, das vor allem Sozialwissenschaftler wunderbar beherrschen, kennt der Nachwuchs kaum noch Fremdsprachen. Lateinisch sowie die Kenntnis etwa der deutschen Paläographie gehören eher der Vergangenheit an. Das Beherrschen wenigstens der modernen deutschen und/oder ungarischen Sprache (falls Letztere nicht gerade Muttersprache ist) gehören zu den glücklichen Ausnahmen. Dafür hat sich ein „wissenschaftlicher“ Aberglaube breitgemacht: Es reiche, wenn man die westliche (in den meisten Fällen amerikanische) Fachliteratur kenne sowie die neuesten Theorien verinnerliche, denn diese bieten die Antwort auf alle Fragen. Das ist natürlich überzogen, aber die Kritiklosigkeit gegenüber der Fachliteratur, der Übereifer, die Theorie unreflektiert in die heimischen Gegebenheiten zu übertragen, wobei das Geschichtsbild im 19. Jahrhundert verharrt, weckt die Frage nach dem, was von der Reformation, zumindest aus ihrer Anfangsphase, überhaupt noch übrig geblieben ist.