Kontaminierte Erinnerungen: Interviews, Lebensberichte und Tagungsbeiträge

Zwei Neuerscheinungen des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas

Gerhardt Csejka/Stefan Sienerth (Hg.): „Vexierspiegel Securitate. Rumäniendeutsche Autoren im Visier des kommunistischen Geheimdienstes“. IKGS/Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2015, Band 129, 280 Seiten, ISBN 978-3-7917-2679-3, EUR 29,95

Stefan Sienerth (Hg.): „Immer die Angst im Nacken, meine Erinnerung könnte versagen. Interviews mit deutschen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern aus Südost-europa“. IKGS/Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2015, Band 131, 400 Seiten, ISBN 978-3-7917-2713-4, EUR 36,95

Das Jahr 2009 war für die deutsch-rumänische Literaturszene sicher ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Jahr. Herta Müller erhielt den Nobelpreis für Literatur, ausgerechnet die Banater Schwäbin, die bereits früh die öffentliche Aufmerksamkeit auf die Machenschaften der Securitate sowohl in Rumänien als auch in Deutschland lenkte und sich mit ihrer anhaltenden Kritik auch an ihren Landsleuten durchaus nicht nur Freunde gemacht hatte. Im Dezember des gleichen Jahres fand in München die internationale Tagung „Deutsche Literatur in Rumänien im Spiegel und Zerrspiegel der Securitate-Akten“ statt, die das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München (IKGS) gemeinsam mit dem rumänischen Nationalrat für das Studium der Securitate-Archive (CNSAS) veranstaltete. Mit dem Jahr 2009 endet auch die – grob gesprochen – Dekade, aus der die Gespräche stammen, die der ehemalige Direktor des IKGS, Prof. h.c. Dr. Stefan Sienerth, mit deutschen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern aus Südosteuropa führte.

Die beiden dokumentarisch bedeutenden Bände, die Sienerth als Herausgeber – im Falle der Tagungsakten zusammen mit Gerhardt Csejka – 2015 in der Schriftenreihe des Instituts publiziert hat, ergänzen sich nicht nur, weil einige Schriftsteller in beiden zu Worte kommen, sondern auch, weil sie einige Reaktionen auf das Studium der Securitate-Akten zeigen. So kommt es, dass in dem Band „Immer die Angst im Nacken, meine Erinnerung könnte versagen“, mit dem Sienerth seine bereits 1997 veröffentlichte Interview-Reihe mit deutschen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern aus Südosteuropa fortsetzt, sich seine Gesprächspartner insbesondere des Literaturzirkels „Aktionsgruppe Banat“, aber auch aus den Literaturkreisen in Klausenburg oder Bukarest, sich an Kollegen und Freunde erinnern, die sich nur wenig später als IM – informelle Mitarbeiter der Securitate – selbst enttarnten oder – vermehrt seit 2010 – durch CNSAS der Spitzeldienste überführt wurden.

Erinnerungen an Brüche, Neuanfänge und Kontinuitäten

In seiner Interviewsammlung lässt Sienerth neben Literaten verstärkt Germanisten und andere Wissenschaftler aus Rumänien, Deutschland, aber auch grenzübergreifend aus Ungarn, Serbien und Österreich zu Wort kommen. Einige der Interviewpartner, mit denen Sienerth Gespräche zu ihrem Werdegang führte, sei es zu den Verfolgungen während des Zweiten Weltkrieges, den anschließenden Deportationen, der Zwangsarbeit oder auch den Repressalien, denen gerade auch die deutschen Intellektuellen – sowohl in ihrer Eigenschaft als Angehörige der deutschen Minderheit als auch als Intellektuelle per se – im totalitär geprägten Rumänien ausgesetzt waren, leben inzwischen nicht mehr. Im Fall des im Jahr 2000 plötzlich verstorbenen Hans Meschendörfer aus Kronstadt, einem bekannten Buchhändler und Verleger, versucht er sogar posthum ein Interview zu konstruieren. So liest man die Erinnerungen des siebenbürgischen Schriftstellers und Verfassers der „Fünf Liter Zuika“, Paul Schuster, ebenso wie die seines Landsmanns Bernhard Ohsam, der zuletzt als Journalist und Schriftsteller in Bremen lebte, oder die der erst jüngst verstorbenen ehemaligen Kulturredakteurin des „Neuen Wegs“ und späteren Mitarbeiterin der Deutschen Welle in Köln, der Journalistin und Lyrikerin Elisabeth Axman, sicher mit besonderer Anteilnahme.

Die Gliederung des Bandes in die drei Abschnitte: I. „Schreiben entlang der Lebenslinien“ – hier kommen Schriftsteller aus der Bukowina, Siebenbürgen und dem Banat zu Wort, II. „Skepsis ist die ständige Begleiterin des Wissenschaftlers – Kulturwissenschaftler aus Deutschland, Österreich, Serbien und Ungarn“ und III. „Am Rand der Mitte – Literaturwissenschaftler in und aus Rumänien“ ist nicht immer ganz nachzuvollziehen. So landet der Kronstädter Meschendörfer wohl in seiner Eigenschaft als Verleger unter Abschnitt II und der Soziologe Anton Sterbling, heute Professor an der Polizeifachhochschule im sächsischen Rothenburg, der in dieser Eigenschaft auch interessante Einblicke in seinen heutigen Universitätsalltag gewährt, wegen seiner Zugehörigkeit zur Aktionsgruppe Banat zwischen den Schriftstellern des ersten Abschnitts.

Wie vertrackt und unglaublich die oben erwähnten Lebenslinien oft verliefen, illustriert vielleicht keine Biografie so anschaulich wie die des Edgar Hilsenrath, der mit dem Buch „Der Nazi und der Friseur“, das international besetzt verfilmt wurde, große Bekanntheit erlangte. Von Leipzig nach Sereth/Siret in der Bukowina, in ein Lager in Transnistrien, nach Palästina, Frankreich, die USA und zurück über München nach Berlin führte ihn sein Schicksal, und das sind längst nicht alle Lebensstationen, die Hilsenrath durchlebt und durchlitten hat. Dass er dabei ein oft unbequemer Querdenker, aber auch äußerst interessanter Gesprächspartner geworden ist, kann man hier nachlesen. Der Lebensweg der Nachgeborenen bewegte sich systembedingt in engeren Bahnen. So der des siebenbürgisch-sächsischen ehemaligen Redakteurs des „Neuen Wegs“, Dieter Roth.

Geboren in Ploie{ti, zur Schule gegangen in Kronstadt lebte er bis zu seiner Ausreise nach Süddeutschland überwiegend in Bukarest, wo er als Lektor des Kriterion-Verlages und Übersetzer rumänischer Literatur sich einen exzellenten Ruf erwarb, was ihn wohl dazu ermächtigt, hier manch harsches Urteil über den modernen Literaturbetrieb zu äußern. Die meisten der ehemaligen Kollegen, der „Karpatenrundschau“, der „Banater Zeitung“ oder eben des „Neuen Wegs“, aber auch der in Bukarest produzierten Literaturzeitschrift „Neue Literatur“ haben nach ihrer Ausreise im Medienbereich in Deutschland wieder eine Anstellung gefunden. Andere Vertreter der Germanistik und des nicht unbedeutenden Literaturwesens an den Universitäten in Klausenburg, Hermannstadt, Jassy und natürlich Bukarest arbeiten auch heute zuweilen für die entsprechenden Institute und Forschungseinrichtungen, gemeinsam mit jenen, die in Rumänien geblieben sind.

Ein besonderes Augenmerk richtet sich jedoch auf die Mitglieder der ehemaligen Aktionsgruppe Banat wie auch des Adam Müller-Guttenbrunn-Kreises, dem auch Herta Müller angehörte, die sich jedoch in keinem der hier besprochenen Bücher äußert. Vielleicht nicht intendiert, aber deshalb nicht minder interessant, erscheint die Tatsache, dass das Gros der Interviews zu einer Zeit geführt wurde, als die intensive Beschäftigung mit den vom rumänischen Geheimdienst verfassten Akten insbesondere über die Bewachung und Bespitzelung der deutschen Autoren und Geisteswissenschaftler in Rumänien gerade erst eingesetzt hatte. Zwar spielen in den Interviews die Erfahrungen mit dem Überwachungssystem samt dem zunehmenden Druck, der zu vermehrter Ausreise vor allem in die damalige Bundesrepublik führte, eine herausragende Rolle. Aber für die eigentliche Auseinandersetzung kann sicher die Konferenz als entscheidende Wegmarke gelten.

Die Konferenz 2009 und ihre Folgen

Vexierspiegel ist ein treffend gewählter Ausdruck für dieses „Öffnen der Büchse der Pandora“, denn nach 2009 brach in der Medienöffentlichkeit in Deutschland, weniger in Rumänien, ein öffentlich geführter Schlagabtausch hauptsächlich zwischen Mitgliedern der sogenannten Aktionsgruppe Banat bzw. dem Adam Müller-Guttenbrunn-Kreis und den vermutlich enttarnten ehemaligen informellen Mitarbeitern (IM) aus, der sich auch auf die Bühne der deutschen Gerichtsbarkeit ausdehnte. Nun ist die Spitzeltätigkeit selbst, weder in Rumänien noch in Deutschland, ein Straftatbestand. Meist erfreuen sich die ehemaligen Stasimitarbeiter respektive ihre Pendants in Rumänien hoher Renten oder einer beachtlichen postkommunistischen Karriere, sofern sie sich nicht sonst etwas haben zuschulden kommen lassen.

Während die Bespitzelten mit gebrochenen Lebensläufen oder prekären Arbeitsverhältnissen zurechtkommen müssen, zumal Rehabilitationsverfahren oft schwierig zu führen sind. (Ausführlich dazu: Sabina Kienlechner: „Der arme Spitzel - Die rumäniendeutschen Schriftsteller und das juristische Debakel der Securitate-Aufarbeitung“ (https://sinn-und-form.de/index.php? tabelle=leseprobe&titel_id=6547).
Die Akten sind oft bruchstückhaft überliefert, verfälscht, schlichtweg keine verlässliche Quelle und daher vor Gericht nur bedingt tauglich. Herta Müller bezeichnete ihre Akte als „ regelrecht entkernt“. Der Redakteur der „Banater Zeitung“ Werner Kremm beschwerte sich gar in einem Artikel, dass seine offensichtlich vollständig verschwunden ist, obwohl er sie seinerzeit selbst gesehen hatte. Ähnliches vermerken nun auch die Autoren des vorliegenden Bandes, dezidiert Anton Sterbling zu den „Aktenlücken“. Eine der größten Schwierigkeiten liegt wohl darin, dass die meist mit Decknamen bezeichneten Informanten nur selten eindeutig einem Klarnamen zuzuordnen sind. Nachweise können oft nur durch Rückschlüsse geführt werden, die dann die geforderte Eindeutigkeit vermissen lassen. Auch in dieser Arbeit werden IM meist nur mit ihrem Decknamen aufgeführt, und nur in seltenen Fällen lässt sich der Klarname in Fußnoten zuordnen.

Der Fokus liegt also mehr auf der Analyse der Strukturen, so beschäftigt sich im ersten Teil Dr. Cristina Anisescu von der CNSAS mit der „Mitarbeiterführung“ oder der Art der Anwerbung durch die Securitate. Georg Herbstritt stellt einen Vergleich mit der Arbeitsweise der Stasi an, die erstaunlicherweise weniger mit der Securitate zusammenarbeitete als man vermuten möchte. Zwischen diesen Institutionen überwog das allgemeine Misstrauen, die Rumänen galten in der poststalinistischen Ära zunächst als zu wenig linientreu. Inzwischen in der Bundesrepublik lebende Schriftsteller deutscher Sprache aus Rumänien wurden daher in der DDR zunehmend als Bedrohung der eigenen Bevölkerung empfunden, deren Einfluss eingedämmt werden musste.

In Teil II und III werden konkrete Fälle geschildert, es wird die persönliche Ebene in den Vordergrund geschoben und die Frage aufgeworfen: Wie empfand man das Studium der eigenen Akten? Vielfach veränderte es die Sicht auf die eigene Vergangenheit, harmlose Ereignisse erscheinen in einem anderen Licht. Da, wo man sich sicher war, das heißt durchaus innerhalb der Grenzen des Erlaubten wähnte, war man schon längst zum Staatsfeind mutiert, wie Franz Hodjak feststellt. Völlig willkürlich erscheinen die Methoden dort, wo Literatur im Sinne der Securitate uminterpretiert wird. Sicher gab es in den diversen Texten Passagen – ohnehin unterlagen alle einer offiziellen Zensur –, die kritische Anspielungen enthalten konnten, aber die Interpretation durch die IMs als nationalistisch, gar deutschnational oder klassenfeindlich war immer der subjektiven Einschätzung anheimgegeben. Ebenso erschreckend, dass laut Richard Wagner, aber auch Helmut Frauendorfer die Verfolgung nicht mit der Flucht in den Westen aufhörte, die Akteneinträge endeten nicht mit dem Ausreisedatum. Im Gegenteil, nur dass die Verfolgungen nun durch Verleumdungskampagnen fortgeführt wurden.

Wie aber umgehen mit den in den Akten erkannten Spitzeln, die den in Rumänien Gebliebenen nun täglich, alltäglich begegnen? Dazu gibt Joachim Wittstock aus Hermannstadt eine anekdotische Antwort. Darüber hinaus bleiben diese Meister des Wortes ihrem Metier treu und wehren sich, verarbeiten diese neuerlichen Zumutungen nun wiederum mit Hilfe ihrer spitzen oder auch poetischen Federn. Satirisches, wie das „Arabische Märchen vom Balkan“ von Horst Samson oder Gedichte von Johann Lippet, lassen erkennen, das für einige die nächste Stufe der Verarbeitung bereits begonnen hat. Im Schlusskapitel fasst Eduard Schneider die wichtigsten Ergebnisse der Konferenz zusammen. Abgesehen von jedem persönlichen Verarbeitungsprozess zeigt das Bemühen der Autoren und Wissenschaftler jedoch deutlich, dass mit einem Abschluss dieses Prozesses oder einer fragwürdigen Normalisierung, das heißt einer Überführung der CNSAS-Akten in den allgemeinen Archivbetrieb – wie dies zur Zeit mit der ehemaligen Gauck-Behörde nun angestrebt wird – in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden sollte.