Langstreckenflug Havanna-Madrid

Letzte Woche flog ich mit Iberia-Airlines von Havanna nach Madrid. Ich hatte einen Gangplatz in der vorletzten Reihe. Das Flugzeug war vollständig besetzt, bis auf die vier Plätze vor mir, auf denen ein einziger Mann saß. Das Flugzeug war schon seit knapp einer halben Stunde gestartet, als ein alter Mann in der Reihe vor dem Alleinsitzenden aufstand und diesen um Erlaubnis bat, neben ihm Platz nehmen zu dürfen. Also nicht direkt neben ihm, denn zwischen ihnen wäre ja noch ein Sitz freigeblieben. I feel so bad, erklärte er höflich, mir geht es nicht gut. Und er bräuche ein wenig Luft zum Atmen. Er wurde aber schroff abgelehnt, der Alleinsitzende war ein bulliger Schlägertyp und verhielt sich wie ein gereizter Gorilla. Der alte Mann setzte sich frustriert auf seinen Platz zurück und rief per Knopfdruck die Flugbegleiterin, die anschließend zum Alleinsitzenden ging und ihn bat, nicht alle vier Sitze für sich in Anspruch zu nehmen. „Please, Sir, wir bitten Sie um Verständnis“, sagte sie, aber er pöbelte nicht nur sie an, sondern auch den Flugbegleiter, der anschließend mit ihm zu reden versuchte.

Unmittelbar danach stand ein junger, dunkelhäutiger Mann, der zwei Reihen vor mir saß, seelenruhig auf und setzte sich neben den Schlägertypen. Er war kaum größer als ein Kind. Hey, what’s on, man, scher dich zum Teufel, sagte der bullige Typ und fuchtelte mit der Faust. Aber der junge Mann klappte seine Rückenlehne nach hinten und gähnte müde. Daraufhin passierte etwas Unerwartetes: Der aggressive Schlägertyp beruhigte sich im Handumdrehen, lehnte sich ebenfalls zurück, schloss die Augen und versank in einen Tiefschlaf. Zwei Stunden später, als ich nach hinten zur Toilette ging, traf ich den jungen Mann vor der Toilettentür, und wir schlossen Bekanntschaft. Er war Spanier und wohnte in Madrid. Ich sprach ihm meine Bewunderung für den kürzlichen Sitzplatzwechsel aus und fragte ihn, woher er seinen Mut und seine Ruhe hergenommen habe. „Amigo“, sagte er, „der Typ begann einfach, mir auf die Nerven zu gehen. Und da habe ich mich neben ihn gesetzt, damit endlich Schluss ist.“ „Aha“, sagte ich, „aber war dir das nicht zu gefährlich?“ „Alles halb so schlimm“, sagte der junge Mann und fügte etwas hinzu, was in jedem halbwegs glaubwürdigen Drehbuch verboten wäre: Er sei Boxer in der spanischen Nationalmannschaft und käme gerade aus einem Trainingslager in Havanna.

Er kämpfe in der Kategorie Fliegengewicht. Und da drüben, vorne links, säße sein Trainer. Und der schwarze Riese, der gerade aufgestanden sei, sagte er, das ist mein Cousin, es mi primo. Der boxe als Schwergewichtler. Das glaubte ich ihm aufs Wort. Als er merkte, dass wir in seine Richtung sahen, lächelte der Riese uns breit zu. Dann erhob er seine schaufelgroße Hand und machte winke, winke. Ich kehrte zu meinem Platz zurück, schaltete die Deckenleuchte ein und begann entspannt die spanische Tageszeitung „El Pais“ zu lesen. Auf der ersten Seite gab es einen langen Artikel über Putin und den Ukraine-Konflikt. Alle Ähnlichkeiten mit Personen und Handlungen im Flugzeug waren dabei rein zufällig.