„Man kann ja nicht auf der Bühne weinen“

Auftritt des israelischen Dirigenten Arie Levanon in seiner Geburtsstadt Focşani

Arie Levanon (Mitte) und Vincent Grüger (rechts) beim Interview. Links der Direktor des Volksathenäums in Focşani, Valentin Gheorghiţa

Tief bewegt nimmt der 84-jährige Gastdirigent die Blumen nach dem Auftritt entgegen.
Fotos: George Dumitriu

„Didldidldam, didldidldam, didldidldam“, diktiert der Mann im Rollkragenpullover energisch den Takt. Dann schnellt sein Zeigefinger in die Höhe: „Habt ihr das verstanden?“ Aufmerksame Augenpaare heften sich an seine schneeweißen Hände. Die Partie wird schneller und kraftvoller wiederholt, der Maestro nickt zufrieden. „Das klappt heute besser als gestern“, lobt er in perfektem Rumänisch – seiner Muttersprache, die er über 65 Jahre lang kaum mehr gesprochen hat. Was auf den ersten Blick wie eine gewöhnliche Orchesterprobe wirkt, ist tatsächlich ein historischer Moment: Im Konzertsaal des Focşaner Volksathenäums „Maior Gheorghe Pastia“ – dem runden, kuppelgedeckten Raum, der an eine kostbare Schmuckschatulle erinnert – blinkt er am 22. und 23. Januar 2016 wie ein leuchtender Stern vor dem nachtschwarzen Dunkel der rumänischen Vergangenheit auf.

Der weiße Löwe

65 Jahre sind verstrichen, seitdem Leon Vaismann seine Geburtsstadt, das Focşani seiner Kindheit, verlassen hatte. Voll Hoffnung folgte er den Seinen ins gelobte Land – in eine neue, ungewisse Zukunft. „Am Anfang fehlt einem alles!“ gesteht der heute 84-Jährige, der fortan auf Hebräisch Arie Levanon heißt – der weiße Löwe, eine ungefähre Übersetzung seines Geburtsnamens. Zuerst hauste die Familie im Zelt, dann in einer Gemeinschaftswohnung mit anderen Aussiedlern – immerhin mit gemietetem Klavier. Seine musikalische Karriere in der neuen Heimat begann mit dem Erteilen von Musikunterricht. Heute ist der ehemalige Schüler von Sergiu Celibidache, der in Tel Aviv und in Rom studierte, dort ein bekannter Dirigent. Über Nacht war er berühmt geworden, nachdem er 1968 mit seiner folkloristisch inspirierten Komposition „Erev ba“ (Wenn es Abend wird), die seither in der weltweit verstreuten Diaspora als heimliche Hymne Israels gilt, den ersten national organisierten Wettbewerb gewonnen hatte.

Nun war Arie Levanon als Gast auf die Bühne seiner Kindheit zurückgekehrt, um mit dem deutschen Dirigenten Vincent Grüger, der das Focşaner Kammerorchester 2009 ins Leben gerufen hatte, gemeinsam aufzutreten. Dass es denselben Namen trägt wie das einst von ihm als 15-jähriger Junge mitbegründete, dessen Leitung er mit nur 17 Jahren übernehmen durfte – „Mein erster bezahlter Job!“ lächelt Levanon stolz – ist kein Zufall. Vielmehr eine bewusste Anknüpfung an dessen Geschichte, die für Focşani damit endete, dass das Orchester in kommunistischer Zeit wegverlegt wurde.

Späte Auferstehung

Dass es eine Art späte Auferstehung erfahren hatte, erfuhr Arie Levanon von der Journalistin Silvia Vrînceanu, Chefredakteurin des Lokalblattes „Ziarul de Vrancea“. Nachdem er ein paar Aufnahmen gehört hatte und feststellte, „das ist ja ganz seriöse Musik“, war er Feuer und Flamme für die Idee, noch einmal mit dem Orchester auf der Bühne zu stehen.
Die Journalistin hat sich nicht nur für Levanons Besuch eingesetzt, sie ist auch eine der vehementesten Unterstützerinnen der musikalischen Initiative Grügers. „Ein Deutscher, der den umgekehrten Weg gegangen ist als die meisten Rumänen...“, betont sie immer wieder. Wenn es nach ihr ginge, müsste das Orchester längst eine permanente Einrichtung der Stadt sein. Tatsächlich jedoch reisen die meisten Musiker – wie auch Grüger – für jede Probe und jedes Konzert aus Bukarest oder ihren Heimatstädten an. Terminliche Engpässe und anderweitige Verpflichtungen erschweren die Planung und verkürzen die Probezeiten auf ein Minimum. „Ein Söldnerorchester“, kommentiert Levanon ironisch deren Lage. Weil man als einfaches Orchestermitglied wenig verdient, sind die Musiker zudem daran gewöhnt, jedes Engagement, das sich ihnen irgendwo bietet, anzunehmen und weite Anreisen in Kauf zu nehmen, erklärt Vincent Grüger. Und ergänzt, nicht ohne Stolz: „Deswegen sind sie auch so gut – sie haben viel Übung!“

Längst würde sich die permanente Einrichtung eines Orchesters in Focşani rechtfertigen, denn an den Konzerten, die derzeit einmal im Monat stattfinden, gibt es mittlerweile großes Interesse. „Wir haben ein sehr warmes Publikum“, freut sich Vincent Grüger, der sich als ehemaliger Kapellmeister der Oper in Jassy/Iaşi, als Chefdirigent des Musiktheaters in Galatz/Galaţi und als Gastdirigent bei vielen rumänischen Orchestern einen Namen in Rumänien geschaffen hat. Regelmäßig kommen um die 250 Zuhörer zu den Konzerten nach Focşani. Je nach Anlass ist der 360 Personen fassende Saal des Volksathenäums auch voll belegt – wie am Samstag des 23. Januars, an dem es sich selbst der als Musikliebhaber und -kenner geltende Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Werner Hans Lauk, nicht nehmen ließ, extra aus Bukarest anzureisen.

„Unirea“ – Gedenken an die Vereinigung

Zum Anlass der Vereinigung der Donaufürstentümer vor 157 Jahren, die in Focşani jeden 24. Januar feierlich begangen wird, spielte das Kammerorchester „Unirea“ an beiden Abenden zuerst unter der Leitung von Levanon das „Preludiu la unison“ von George Enescu, die sinfonische Suite „Freilechs“ von Arie Levanon und die Ouvertüre von Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“. Nach der Pause ging es weiter unter der Leitung von Vincent Grüger mit der 6. Sinfonie in C-Dur von Franz Schubert (22. Januar) und der 5. Sinfonie in c-Moll op. 67 von Ludwig van Beethoven (23. Januar).
Den Konzertsaal hatte Arie Levanon auf Anhieb wiedererkannt. Sogar ein ehemaliger Klassenkamerad, mit dem er in den 40-er Jahren die Schulbank des Focşaner „Unirea“-Lyzeums gedrückt hatte, besuchte ihn dort spontan. Wie man sich fühlt, nach über 70 Jahren mit dem Taktstock auf derselben Bühne zu stehen wie beim allerersten Mal? „Es ist ein überwältigender Augenblick“, gesteht der Maestro sichtlich bewegt. „Ich konzentrierte mich nur auf das Dirigieren – man kann ja nicht einfach auf der Bühne weinen.“