„Mein Körper ist noch widerstandsfähiger als ihrer es war“

Rund 1000 Patienten sind auf Immunglobuline angewiesen, doch seit Monaten sind sie in Rumänien nicht mehr verfügbar

Andrei vor seiner Wohnung in Hermannstadt
Foto: der Verfasser

„Der einzige Vorteil, den ich hatte, war, dass sie schon 69 Jahre alt war und ich erst 26 bin. Mein Körper ist noch widerstandsfähiger als ihrer es war“, erzählt mir Andrei Pop am Küchentisch seiner Hermannstädter Wohnung. Der Tod von Maria M. und die Leidensgeschichte von Andrei stehen für das Versagen des rumänischen Gesundheitssystems.

Andrei ist ein schlanker, junger Mann, etwas kleiner als der durchschnittliche Erwachsene, mit braunen Augen, gepflegtem Bart und kräftigem Haar. Er schiebt mir sein Smartphone herüber. Die Fotos auf dem kleinen Display zeigen einen abgemagerten Mann mit ausgeprägten Augenringen und ausdruckslosem Blick. Sie zeigen Andrei vier Wochen zuvor, Mitte November. Er wirkt um Jahre gealtert, hat zu diesem Zeitpunkt seit Monaten die für ihn lebenswichtigen Immunglobuline nicht mehr bekommen. Seit Sommer sind Medikamente mit Immunglobulinen nicht mehr auf dem rumänischen Markt verfügbar. Es ist die Folge einer politischen Entscheidung des Gesundheitsministeriums.

Andrei leidet an einem angeborenen Antikörpermangel. Als Kind ist er oft krank, dutzende Male hat er eine Mittelohrentzündung. „Über 50 Mal allein im rechten Ohr.“ Egal, woran Andrei leidet, ob Gürtelrose oder Hirnhautentzündung, kurz nach Absetzen der entsprechenden Antibiotika bricht die Krankheit erneut aus. Er spielt eine Zeit lang Basketball im Verein, doch häufig fehlt er für einen Monat oder noch länger. Seine Mutter geht mit ihm zu den verschiedensten Fachärzten in Klausenburg, sie fahren nach Temeswar und Bukarest, doch den Grund für sein Leiden kann ihnen niemand nennen.

Erst mit 19 erfährt Andrei die korrekte Diagnose. Damals liegt der junge Student mit Magenproblemen im Krankenhaus. Eben zu dieser Zeit forscht auf der Station eine junge Ärztin zum Antikörpermangel. Sie fragt Andrei, ob bei ihm schon einmal ein Immunitätstest vorgenommen wurde – er verneint. Nach der Analyse seines Blutes steht fest: Variables Immundefektsyndrom. Seinem Körper fehlt das Immunglobulin G. Das sind Antikörper, die zum körpereigenen Abwehrsystem gehören, von den Plasmazellen produziert werden und vor allem gegen Viren und Bakterien wirken, ihnen ist sein Körper von Geburt an schutzlos ausgeliefert. „Es ist nicht die schlimmste Form dieser Immunkrankheit“, erklärt Andrei, „doch ohne Behandlung könnte ich an einer einfachen Erkältung sterben.“ Seit sieben Jahren wird er mit Immunglobulinen behandelt. Zur Therapie fährt er einmal im Monat von Hermannstadt nach Klausenburg. Dort ist er aufgewachsen und hat an der Technischen Universität Informatik studiert. Dort kennt er die Ärzte in der Klinik für Allergien und klinische Immunologie, und sie kennen ihn. Fünf Ampullen mit Immunglobulinen bekommt er alle vier Wochen intravenös verabreicht – sofern genügend vorhanden sind.

Entsprechend der Rumänischen Vereinigung der Patienten mit einem primären Immundefizit (ARPID) werden rund 1000 Patienten in Rumänien mit Immunglobulinen behandelt. Sie leiden wie Andrei unter angeborenen Immundefekten, unter Autoimmunerkrankungen oder Erkrankungen des peripheren Nervensystems. Die Kosten für ihre Behandlung hat bisher der rumänische Staat getragen und trägt sie immer noch, nur sind seit Monaten im ganzen Land keine Immunglobulin-Präparate mehr verfügbar. Im März vergangenen Jahres lässt Gesundheitsminister Florian Bodog (PSD) Immunglobulin-Präparate von der Liste der unentbehrlichen Medikamente streichen, und langsam werden die Reserven in den Krankenhäusern aufgebraucht. Andrei sagt, er habe davon gehört, dass sie von der Liste gestrichen wurden, doch im Krankenhaus bekam er weiter jeden Monat seine Infusion. Sorgen hat er sich nicht gemacht, bereits in den vergangenen Jahren gab es immer wieder kurzfristig einen Mangel an Immunglobulin-Präparaten.

Erst im Oktober 2016 hatte der damalige Gesundheitsminister Vlad Voiculescu (parteilos) Immunglobulin-Präparate in die Liste der unentbehrlichen Medikamente aufgenommen und den Preis, den der rumänische Staat an die Pharmahersteller zahlt, angehoben, um den Import der Medikamente sicherzustellen. Zuvor waren Immunglobulin-Präparate europaweit in Rumänien am günstigsten, und das waren sie auch danach noch. Das Problem am niedrigen Preis: Pharmahändler kaufen Medikamente in Süd- und Osteuropa, um sie umverpackt in Hochpreisländern weiterzuverkaufen. Die Pharmahersteller könnten zwar nachliefern, haben allerdings kein großes Interesse, noch mehr Pillen nach Rumänien oder Griechenland zu liefern, wenn sie davon ausgehen müssen, dass die Ware über Umwege wieder in Deutschland oder Schweden landet.

Von vier Immunglobulin-Herstellern, die für den rumänischen Markt zugelassen sind, zog sich einer bereits 2015 zurück, ein zweiter folgte 2016. Der geringe Preisanstieg und die Aufnahme in die Liste der unentbehrlichen Medikamente führte dazu, dass die beiden verbliebenen Pharmahersteller weiter Präparate nach Rumänien lieferten – bis zum März dieses Jahres. In Rumänien kostete eine Ampulle mit fünf Gramm Immunglobulinen rund 200 Euro, in Deutschland rund 430 Euro. „Abhängig von Größe und Gewicht benötigt ein Kleinkind zehn Gramm im Monat, ein Erwachsener bis zu 125 Gramm“, erklärt Otilia Stânga, stellvertretende Vorsitzerin der Rumänischen Vereinigung der Patienten mit einem primären Immundefizit (ARPID). Für die Herstellung eines Präparats werden Plasmaspenden von mindestens 1000 Spendern benötigt. In Rumänien selbst werden keine Immunglobulin-Präparate hergestellt, tatsächlich verfügt das Land nicht einmal über eine Blutbank, also eine Lagerstätte für Blutkonserven.

Im August erhält Andrei einen Anruf vom Krankenhaus. „Sie haben mir gesagt, dass ich diesen Monat keine Behandlung bekommen kann.“ Letztendlich werden ihm am 10. August zwei von fünf Ampullen injiziert. Sobald das Medikament wieder vorrätig ist, werde man sich bei ihm melden, sagen ihm die Ärzte. Einen Anruf erhält Andrei im September tatsächlich, doch ihm wird mitgeteilt, dass keine Immunglobulin-Präparate mehr vorhanden sind. Jetzt erst begreift er, dass die Immunglobulin-Krise prekärer ist als in den vergangenen Jahren. In fast allen Krankenhäusern des Landes sind spätestens jetzt keine Immunglobulin-Präparate mehr vorhanden. Schon seit Juli hat die zwölfjährige Maia aus Temeswar keine Behandlung mehr erhalten.

Ihre Eltern haben entschieden, sie nicht mehr zur Schule zu schicken, zu ihrer eigenen Sicherheit. Unterdessen versuchen verschiedene Patientenorganisationen, das Problem auf politischer Ebene zu lösen. Am 4. September treffen sie sich zum ersten Mal mit Vertretern des Gesundheitsministeriums – erfolglos. Zunächst streitet Gesundheitsminister Florin Bodog sogar ab, dass es überhaupt eine Immunglobulin-Krise gebe.
Knapp zwei Monate später, am 31. Oktober, demonstrieren Patienten und Eltern vor dem Gesundheitsministerium in Bukarest. Noch am selben Tag kommt es zu einem neuerlichen Treffen, in Folge dessen Florin Bodog verkündet, dass 6000 Ampullen Pentaglobin angekauft werden. Allerdings kann Pentaglobin nur bei Blutvergiftungen und Antikörpermangel verabreicht werden, bei einem primären Immundefekt ist es wirkungslos. Nach weiteren Treffen mit Pharmaunternehmen verkündet Bodog, dass noch im November 900 Ampullen Immunglobulin geliefert werden sollen. Doch das wird nicht geschehen.

Am 13. November geht Andrei in Hermannstadt ins Krankenhaus. Er fühlt sich schwach und müde, schwitzt am ganzen Körper. Die Ärzte diagnostizieren eine Blutvergiftung, Blutarmut und Gelbsucht. Sein Zustand ist kritisch. Er bekommt Bluttransfusionen und Kortison, nur keine Immunglobuline. Die gibt es auch in Hermannstadt schon lange nicht mehr. Die Medikamente, die er bekommt, schwächen sein Immunsystem weiter, helfen aber gegen die Blutkrankheiten. Zehn Tage später wird Andrei auf eigenen Wunsch aus dem Krankenhaus entlassen. „Als ich aus dem Krankenhaus kam fühlte ich mich schlechter als zuvor, aber meinem Blut ging es wieder besser.“ Für ein paar Tage geht er wieder zur Arbeit. „Ich fühlte mich schlecht, bin aber zwei oder drei Stunden täglich ins Büro gegangen. Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe. Ich hatte viel zu erledigen.“Andrei nimmt viel Kalzium und Magnesium zu sich. „Ich wusste, dass es mir nicht helfen wird, aber ich habe gehofft, ich würde mich besser fühlen“, erzählt er. „Irgendetwas musste ich doch tun.“ In diesen Tagen entstanden auch die Fotos, die er mir zu Beginn unseres Gesprächs gezeigt hat.

Während Andrei im Krankenhaus liegt, empfiehlt eine Ärztin in der Facebook-Gruppe, in der sich die Betroffenen austauschen, sich darüber Gedanken zu machen, das Medikament im Ausland zu kaufen. In Ungarn werden Immunglobulin-Präparate vom Staat subventioniert und kosten rund 200 Euro pro Ampulle. Andrei benötigt fünf Ampullen pro Monat. Doch ganz so einfach, wie es zunächst klingt, ist es nicht. „Man kann nicht einfach nach Ungarn fahren und Immunglobulin-Präparate kaufen“, sagt Andrei. Der ungarische Staat subventioniert die Medikamente für die Patienten im Land und gibt sie nicht in den freien Verkauf. „Du brauchst ein Dokument von den rumänischen Ärzten hier, übersetzt ins Ungarische, aber das ist gar nicht das Problem.“

Das Problem ist, dass Andrei nicht nur selbst nach Ungarn fahren müsste, er müsste auch seinen Wohnsitz nach Ungarn verlegen. „Ich kann das Medikament in einem ungarischen Krankenhaus nur verabreicht bekommen, wenn ich auch dort lebe.“ In der Facebook-Gruppe finden die Betroffenen einen anderen Weg – einen, der nicht legal ist. Über Kontakte rumänischer Ärzte und Politiker zu ungarischen Kollegen gelingt es Präparate anzukaufen – für jeden, der es sich leisten kann. „Irgendwie haben sie es hinbekommen, irgendeine Vereinbarung wurde getroffen.“ Wer daran beteiligt war und wie genau dies geschehen ist will Andrei nicht verraten. Die Immunglobulin-Krise ist schließlich noch nicht gelöst. Für fünf Ampullen bezahlt Andrei rund 1000 Euro. Die Familie legt dafür zusammen. Ein Freund bringt die Immunglobulin-Präparate nach Rumänien. „Er hat sie am 25. November nach Klausenburg gebracht, weil sie mir in Hermannstadt niemand injizieren wollte.“ Natürlich können die Hermannstädter Ärzte nicht wissen, was sie Andrei tatsächlich verabreichen würden. An der Tür der elterlichen Wohnung nimmt seine Mutter das Paket entgegen und stellt es in den Kühlschrank. „Man muss sie kühl lagern, zwischen zwei und zehn Grad“, erklärt Andrei.

Zwei Tage später, am 27. November, erhält Andrei einen Anruf von der Klinik für Allergien und klinische Immunologie. Entsprechend einer internen Liste gehört er zu den Patienten mit dem schwersten Krankheitsverlauf. Für fünf Patienten sind Immunglobuline vorhanden. Am 4. Dezember, fast vier Monate nach der letzten Behandlung, soll Andrei wieder frische Antikörper bekommen. Denselben Anruf erhält auch die 69-jährige Maria M., auch sie leidet an einem primären Immundefekt. Die Frau aus dem Kreis Alba wird Anfang November in Hermannstadt ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie zehn Tage verbringt, ohne Immunglobuline verabreicht zu bekommen. Ohne Behandlung verlässt sie Hermannstadt und wird in Karlsburg ins Krankenhaus eingeliefert. Hier versucht Klinikdirektorin Nicoleta Coşarcă schon seit Wochen, Immunglobulin-Präparate zu bestellen.

Täglich telefoniert sie mit dem Staatsunternehmen UNIFARM, das für den Einkauf und den Vertrieb von Medikamenten zuständig ist – ohne Erfolg. Ende November wird der Name von Maria M. vom Gesundheitsministerium auf eine Notfallliste gesetzt, zusammen mit Andrei soll sie am 4. Dezember Immunglobuline bekommen. Zu spät: Am 2. Dezember verstirbt Maria M. im Krankenhaus von Karlsburg. Andrei bekommt am 4. Dezember tatsächlich Immunglobuline.

Ich möchte von Andrei wissen, warum es noch einmal eine Woche dauerte, vom Anruf bis zur Behandlung. „Man, that’s how it works in Romania“, ist seine lapidare Antwort. Er hat resigniert vor dem rumänischen Gesundheitssystem.

Während ich mit Andrei am Küchentisch seiner Hermannstädter Wohnung sitze, stehen im Kühlschrank seiner Mutter Immunglobulin-Präparate im Wert von 1000 Euro. Er erzählt, dass er ohne die Kontakte aus der Facebook-Gruppe gar nicht an sie gekommen wäre, auch nicht mit dem Geld, das die Familie gesammelt hat. „Nur wenn ich sehr viel mehr Geld gehabt hätte, hätte ich sie auch legal in Deutschland kaufen können, denn dort kosten fünf Ampullen insgesamt 2000 oder 2500 Euro.“ Ich möchte wissen, ob er sich vorstellen könnte, die Präparate weiterzuverkaufen. Seine Antwort ist ein klares „Nein“.

Die Immunglobulin-Krise ist noch nicht gelöst. Andrei weiß nicht, ob er im Januar seine Immunglobulin-Behandlung erhält. Zwei Monate kommt er ohne größere gesundheitliche Probleme aus, bis Anfang Februar. Er ist gezwungen optimistisch. „Sie (die Patientenorganisationen) haben viele Gespräche mit der Regierung. Irgendetwas wird passieren. Ich hoffe, alles wird gut. Jetzt hatte ich Glück und die Möglichkeit, Immunglobuline zu kaufen. Die Frau hatte dafür kein Geld.“