Menschen in China

Das faszinierende Leben im Reich der Mitte (I)

Drachenumzug auf der Insel Lamma in Hong Kong

Leute in einem Frühstückslokal in Hong Kong

Umzug der Mönche in einem buddhistischen Tempel
Fotos: die Verfasserin

Bunte Scooter fahren hupend durch die Gegend. Eine Frau im dunkelrosa Frottee-Mantel hängt mehrere Paare Unterhosen zum Trocknen an eine Telefonleitung. Nachbarn spielen auf der Straße Schach miteinander. Aus geöffneten Fenstern dringt scharfer Suppengeruch. Am Ufer des Huangpu-Flusses in Shanghai schießen riesige silberne Türme aus dem Boden, ihre Dächer sind in den Wolken versteckt. Goldene Glückskatzen winken von Verkaufsregalen. Ein Mann im Anzug beginnt plötzlich rückwärts zu gehen. Drei junge Frauen mit Minnie-Maus-Ohren machen Selfies vor dem Schaufenster eines Gucci-Ladens. Ein Kind reitet auf einer riesigen Hello-Kitty Katze, die mit bunten, glitzernden Steinen geschmückt ist. In den Restaurants drehen sich die Tische und die Leute reden ungewöhnlich laut. Aus den Lautsprechern in einem Laden, der Hühnerkrallen verkauft, hört man einen Hit von Mariah Carey - auf chinesisch gesungen.

Beim Einsteigen in die U-Bahn drängeln die Leute wie wild, als ginge es um Leben und Tod, um einen Platz zu ergattern. Im Park tanzen Rentnerinnen Tango. Vor der größten Starbucks-Filiale in Shanghai hat sich eine riesige Schlange gebildet. Es kann Stunden dauern, bis man endlich seinen Kaffee-Pappbecher in der Hand hat, aber trotzdem stellen sich immer mehr Leute an. Man landet dauernd in einem Menschenmeer: auf der Bund-Promenade entlang des Huangpu-Flusses, an Bahnhöfen, wo man wie am Flughafen kontrolliert wird, im traditionellen Xintiandi-Viertel.

In China leben 1,3 Milliarden Menschen. Manch Ausländer kann hier einen Kulturschock erleben: im Land der Mitte herrschen andere Regeln. Oder manchmal gar keine.
Es gibt viele Sachen, die in China „anders“ sind und als Tourist muss man sich schnell mit den bizarren Gewohnheiten der Bewohner abfinden. Je schneller man das tut und erkennt, dass man die Regeln, die man von zu Hause kennt, einfach vergessen muss, desto mehr genießt man dieses faszinierende Land.

Die Becken, in denen sich der Mond spiegelt, und warum man sich wie ein Filmstar fühlt

Hangzhou, die Hauptstadt der chinesischen Provinz Zhejiang, liegt eine Zugstunde von Shanghai entfernt am berühmten Westsee. Zu diesem See, der von Dichtern und Künstlern seit dem 9. Jahrhundert gefeiert wird, gehören Inseln, die mit dem Boot zu erreichen sind, Tempel, Pavillons, Gärten und Bogenbrücken. Sie haben poetische Namen wie “Drei Becken, in denen sich der Mond spiegelt“ oder „kleine Paradiesinsel“.

Der Westsee ist ein beliebtes Ausflugsziel für Chinesen und wird als der schönste Ort im Land angepriesen. Auf den Waldwegen entlang des Sees, in der Suche nach den Becken, in denen sich der Mond spiegelt, hören wir plötzlich aufgeregtes Tuscheln. Zwei ältere Frauen halten ihre Smartphones in unsere Richtung. Als wir uns umwenden, verschwinden sie kichernd hinter einem Busch. Sie haben heimlich ein Foto von uns geknipst. Das ist nicht ungewöhnlich. Später treffen wir Leute, die etwas höflicher sind: sie bitten uns, ein Foto mit uns zu machen. Eigentlich mit der ganzen Familie. Erst mit dem Kind, dann mit der Mutter, dann mit Kind und Mutter, anschließend auch mit Vater, Großtante und Cousine. Wir fragen uns, in wie vielen chinesischen Familienalben Fotos von uns zu sehen sein werden.

Als Europäer fühlt man sich in China, besonders in kleineren Städten und auf dem Land, manchmal wie ein Filmstar. Jahrhundertelang war das Land abgeschottet, kaum ein Ausländer fand den Weg ins Reich der Mitte. Wer das Filmstar-Gefühl haben will, muss sich jedoch beeilen. China wird weltoffen: in Shanghai dreht sich kaum jemand nach einem Europäer um. Doch auch hier werden wir fotografiert.
Auf einem Touristenboot, das an einem Tag mit blitzblauem Himmel und wenig Smog am Huangpu-Fluss verkehrt, von einer lustigen Männergruppe aus dem Süden Chinas, die hier Kurzurlaub macht. Wir verständigen uns mit Google Translate. „Bucu yùdìng“, meint einer von ihnen, nachdem er vielleicht das 20. Foto von uns geschossen hat. Das ist soviel wie „Es ist kein Zufall, dass wir uns getroffen haben. Es musste so kommen“. Zum Abschied winken sie freundlich.

Vom „das Gesicht verlieren“, Milchtee und anderen Kuriositäten

„Ni hao“, grüßt die Verkäuferin in einem winzigen Laden in Hangzhou. Immer, wenn jemand den Laden betritt, also jede 3. Sekunde ertönt eine Melodie aus den Lautsprechern des Ladens. Und dauernd hört man eine Stimme, die irgend etwas ansagt: am Bahnhof, in Supermärkten, am U-Bahn-Gleis. In den Laden sind wir gegangen, weil wir um 3 Uhr nachmittags kein einziges offenes Restaurant finden konnten. Und das an einem Touristenort.

Eigentlich war etwas offen, und zwar ein wunderschönes Teehaus am Seeufer. Es war der ideale Platz, um Energie zu tanken: die Aussicht war wunderschön und das, was unsere Tischnachbarn auf ihren Tellern hatten, sah auch vielversprechend aus. Doch die Bedienung hatte etwas besseres zu tun: alle Kellner schauten gespannt ein Video auf einem Smartphone an und ließen sich nicht aus ihrer Ruhe bringen. Als wir sie zum dritten Mal fragten, ob wir wenigstens einen Tee bekommen können, schaute uns einer von ihnen kopfschüttelnd an und sagte: „Cannot“. Es ist ein Wort, das oft verwendet wird, wenn man mit Ausländern zu tun hat: „Es geht nicht“. Nachdem wir im Laden Wasser und Bier gekauft haben, landen wir im einzigen offenen Lokal weit und breit: KFC. Die Fastfood-Kette ist übrigens bei Chinesen sehr beliebt.

Nach einem improvisierten Picknick am Seeufer begeben wir uns auf die Suche nach den Booten, die Touristen auf die Inseln des West-Sees befördern.
Wir fragen vier verschiedene Leute nach dem Weg zum Hafen und erhalten vier verschiedene Antworten. Es dauert fast eine Stunde, bis wir den gesuchten Ort finden. Man muss wissen, dass man in China fast nie komplette Informationen erhält. Sogar auf falsche Fährten kann man gebracht werden. „Falls du einen Chinesen nach dem Weg zu einer bestimmten Adresse fragst, gibt er dir lieber eine falsche Richtung an, als dass er zugibt, den Weg nicht zu kennen“, lautet die ungeschriebene Regel. Falls man zugibt, etwas nicht zu wissen, bedeutet es „man verliert sein Gesicht“. „Das „Gesicht“ steht für den Ruf und die Position einer Person.

Ebenfalls gilt: falls man kein Chinesisch spricht, kommt man manchmal nicht sehr weit.

In Hong Kong ist es anderes. Alle können die Sprache perfekt, vom Turnschuh-Verkäufer bis zum Straßenbahnfahrer.

In einem Cafe im Stil der 50er Jahre sitzt ein älterer Mann und schlürft Milchtee vor seinem Laptop. Er unterhält sich sehr laut mit einer viel jüngeren Frau per Skype. Dass das ganze Lokal seine Konversation mitbekommt, scheint ihn nicht zu stören. Er sagt „ich habe gestern Kartoffeln gekauft“ mit derselben Intonation, mit der er „du hast eine wunderschöne Seele“ sagt. Die Szene ist wie aus einem Film herausgeschnitten. Man könnte ihm stundenlang zuhören.

Auf der Insel Lamma essen wir Meeresfrüchte in der Nähe des Hafens.
Der Kellner schenkt uns Bier ein, wechselt jede Minute unsere Teller und Gläser.
Anscheinend hat er nichts zu tun. Es ist mitten in der Woche und keine Touristen-Saison. Dann setzt er sich einfach neben uns und schweigt. Sieht uns beim Essen zu. „Last Ferry is at eleven“ (Die letzte Fähre ist um eleven), warnt er.

Im Viertel SoHo tanzt eine junge Frau mitten auf der Straße zu Hip-Hop-Rhythmen, ein Freund filmt sie. Niemand dreht sich nach ihr um, niemand starrt sie an. Auch die Frau nicht, die ständig Selfies mit Hasenohren macht. Auch nicht den Mann, der mitten auf der Straße Tai-Chi Übungen macht. Und auch den älteren Herren, der ein Plüschschwein an seiner Tasche hängen hat, mit dem er sich ab und zu unterhält. Es ist Peppa Pig, ein Zeichentrickfilm-Schwein das zur Zeit besonders beliebt ist.

Auf den Straßen wird viel gelächelt. In den Restaurant-Toiletten wird gesungen. Auch im Park. Man kann sich dazugesellen und mitsingen. In der U-Bahn starren alle auf die Smartphonebildschirme. Man findet kaum Platz, um sich festzuhalten. Ich wanke. Auf der gegenüberliegenden Seite sitzt ein älteres Ehepaar. Plötzlich winken beide wie wild. Neben ihnen ist ein Platz frei geworden. Sie lächeln mir zu. Im Fuxing-Park aus Shanghai schenkt uns ein älterer Herr im karierten Hemd eine Zigarette. Einfach so.

Dann fragt er auf chinesisch, ob wir gegessen haben. Er sagt etwas über den Regen, den man am Nachmittag erwartet, und dass er in der Nähe des Parks wohnt. Dann verschwindet er plötzlich, ohne sich zu verabschieden. Nach zwei Minuten kehrt er auf einem rostigen Fahrrad zurück und schenkt uns noch eine Zigarette. Diesmal ist es eine chinesische Marke. Auf der Nanjing-Straße räuspert sich eine zierliche Frau geräuschvoll und spuckt auf den Bürgersteig. Es ist auf keinen Fall eine Rarität. Viele Chinesen spucken in der Öffentlichkeit. Viele säubern dabei noch geräuschvoll ihre Atemwege.

Falls man sich im Supermarkt nach Deos umschaut, gibt es schwache Chancen, etwas zu finden. Weil Chinesen kein Deo benutzen. Das habe ich im Buch einer Expatin gelesen, die ein Jahr in Shanghai verbracht hat. Tatsächlich gibt es im Kosmetik-Laden kein Deo-Regal.

(Fortsetzung folgt)