Menschengerichtshof: Hohe Entschädigungen in verschleppter Revolutionsakte

Die meisten Klagen betreffen entwürdigende Haftbedingungen

Neue ärgerliche Nachrichten vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) für den rumänischen Staat und dessen Justiz: Im Februar wurde 17 Klägern aus der Akte „Elena Apostol und andere gegen Rumänien“, rumänischen Staatsbürgern im Alter von 31 bis 81 Jahren aus Bukarest, Reschitza und Măgurele, in ihrem Gemeinschaftsprozess gegen den rumänischen Staat Recht gegeben. Den Klägern – alles Hinterbliebene von Opfern der blutigen Revolutionsereignisse 1989 – wurden, wie schon in vorangegangenen Fällen betreffend diese Akte, hohe Entschädigungen zugesprochen: insgesamt 255.000 Euro bzw. 15.000 Euro je Person. Das EGMR warf der rumänischen Generalstaatsanwaltschaft unter dem unterdessen zurückgetretenen Generalstaatsanwalt Tiberiu Niţu, übrigens ebenfalls Revolutionär, Oberflächlichkeit vor.

Das Urteil hatte zur Folge, dass Interims-Generalstaatsanwalt Bogdan Licu ankündigte zu prüfen, ob die bisher als heißes Eisen behandelte Revolutionsakte nicht doch wieder aufgerollt werden sollte. Die Kläger klagten in Straßburg gegen die Ineffizienz der durchgeführten Untersuchungen. Es sind eigentlich die gleichen Anklagepunkte aus mehreren vorherigen Prozessen zum Thema der rumänischen Revolutionsakte. So auch die Akte „Verein 21 Dezember 1989, Mărieş, Vlase und andere gegen Rumänien“, die beim EGMR zu einem gleichartigen, berechtigten Urteil gegen den rumänischen Staats geführt hat. Laut Anwalt Antonie Popescu, Verteidiger der Kläger im ersten Fall, zeigt sich in der rumänischen Justiz derzeit eine haarsträubende Situation: Obwohl die Militärstaatsanwaltschaft in einem Dokument von 2008 schwarz auf weiß bestätigt, dass während der Revolution 1989 1200 Tote und mehr als 5000 Verletzte verzeichnet wurden, während weitere Tausende Personen misshandelt und verhaftet wurden, hat die Staatsanwaltschaft die rumänische Öffentlichkeit durch periodische Versprechungen nur hingehalten und letztlich diese wichtige Akte im Dezember 2015 durch einen beschämenden Eilbeschluss geschlossen.

Die Revolutionsakte ist eigentlich nicht die einzige bedeutende Causa der rumänischen Justiz der letzten 25 Jahre, die nach einem einheimischen, originellen Modus verschleppt und konsequent minimalisiert wurde, obwohl sie nach einem Vierteljahrhundert noch immer um Gerechtigkeit zum Himmel schreit.
So ist es auch mit der Akte der „Mineriada“, des Einfalls der Bergarbeiter aus dem Schiltal/Valea Jiului in der Hauptstadt, die trotz starken Protesten und Klagen beim EGMR bis zum heutigen Tag noch keine gerechte Lösung gefunden hat. Der rumänische Staat wurde für die „Mineriada“ vom 13.-15. Juni 1990 beim EGMR im November 2012 verurteilt, wegen Missachtung des Rechtes auf Leben und auf einen gerechten Prozess. Übrigens sind die Akten betreffend die Morde, Misshandlungen, widerrechtlichen Verhaftungen aus den Schreckenstagen vom Juni 1990 in Bukarest bis zum heutigen Datum der Gerichtsinstanz nicht übergeben worden. Auch der Oberste Magistratsrat CSM scheint kein besonderes Interesse an diesem Thema zu haben.

Die Urteile des EGMR gegen den rumänischen Staat auf Grundlage der 1953 angenommenen Menschenrechtskonvention sind weiterhin in verschiedensten Bereichen am laufenden Band zu verzeichnen. Und das trotz der hohen Entschädigungen für die Kläger, trotz der periodischen Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen die rumänische Justiz, trotz der Versprechungen von Staat und Behörden. Übrigens wurden die meisten Klagen aus unserem Land beim EGMR von inhaftierten Personen verzeichnet, die Klage wegen der unmenschlichen und entwürdigenden Bedingungen in den rumänischen Haftanstalten erhoben haben. Auch ihnen wurden zum Großteil hohe Entschädigungen zugesprochen.
Einen interessanten Fall bot die Causa des bekannten rumänischen Journalisten und Schriftstellers Ion T. Morar (Autor u. a. auch des Romans „Lindenfeld“). Morar hatte 2004 in der Publikation „Academia Catavencu“ einige Artikel über Victor Gaetan, 2004 Berater der Präsidentschaftskandidatin Lia Roberts, veröffentlicht. U. a. veröffentlichte er auch einen Brief von Eugen Ionescu an Mircea Eliade, worin dieser seinen Kollegen darauf hinwies, dass Gaetan eigentlich ein Securitate-Mitarbeiter sei.

Im April 2004 klagte Gaetan Morar und weitere zwei Journalisten der genannten Publikation der Verleumdung an. 2005 verurteilte das Amtsgericht Bukarest Morar zur Begleichung einer Entschädigung von 10.000 Dollar an Gaetan und 16.000 Dollar Gerichtskosten. Morars Gegenklage beim EGMR aufgrund des Art. 10 betreffend die Meinungsfreiheit aus der Menschenrechtskonvention kippte dieses Urteil dann in Straßburg völlig um: Laut dem EGMR-Entscheid hat Morar nun eine Entschädigung von mehr als 24.000 Euro zu erhalten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird also wahrscheinlich weiterhin und leider ein wichtiger Spiegel und Gradmesser der rumänischen Justiz bleiben. Der Jurisdiktion des schon 1959 auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1953 gegründeten Gerichts im französischen Straßburg unterstehen der-zeit 47 europäische Staaten, außer Weißrussland und dem Vatikan alle international anerkannten Staaten Europas. Das Gericht besteht aus 47 Richtern, gewählt für eine Amtszeit von 9 Jahren. Neuer Präsident ist seit Dezember 2015 der Italiener Guido Raimondi.

2010 hatte Rumänien die meisten EGMR-Verurteilungen dieser 47 Staaten: Von den 657 Gerichtsentscheiden galten 135 Rumänien, 87 Polen, 69 Bulgarien und 61 Italien. Die wenigsten Urteile trafen Estland (1), Irland und Holland (2). 2015 gab es 3400 Klagen gegen den rumänischen Staat, beträchtlich weniger als 2013 (8700) und 2014 (6150). Im Vorjahr wurden jedoch auch 772 neue Klagen gegen Rumänien am EGMR registriert, die meisten wegen der entwürdigenden Bedingungen in unseren Haftanstalten. Die EGMR-Urteile des Jahres 2015 verdonnerten unser Land zur Bezahlung von Entschädigungen im Gesamtwert von 6,9 Millionen Euro. Eine besorgniserregende Statistik der EGMR-Entscheide zeigt, dass Rumänien in den letzten 25 Jahren zur Begleichung von Entschädigungen im Gesamtwert von über 55 Millionen Euro verurteilt wurde. In einer Statistik der durch das Europäische Gericht für Menschenrechte in der Zeitspanne 1996-2016 meistverurteilten europäischen Staaten belegt unser Land wohl nicht die ersten Plätze, doch immerhin einen unrühmlichen fünften Rang. Derzeit unangefochten den ersten Platz in Europa mit den meisten EGMR-Verurteilungen (zirka 2400) belegt die Türkei, es folgen Italien, Russland und Polen. Die wenigsten EGMR-Verurteilungen galten in der erwähnten Zeitspanne Deutschland und der Schweiz, mit 234 bzw. 113 Verurteilungen.

Dass weiterhin zahlreiche Klagen von einzelnen rumänischen Bürgern oder Gruppen von Normalbürgern gegen den rumänischen Staat beim EGMR einlaufen, ist wohl beschämend und kostspielig zugleich. Nicht nur für den rumänischen Staat, sondern für uns alle, die wir die Zeche als gute Steuerzahler mitbezahlen müssen. Die Sache hat letztlich aber auch etwas Gutes: Für die Ungerechtigkeit aus dem Land kommt aus Straßburg sicher stets Gerechtigkeit ins Land zurück. Und nicht zu vergessen: Mit jedem EGMR-Urteil kommt neue Hoffnung, auch neue Kraft in das Bestreben der Bürger nach einer wahren Demokratie westlicher Prägung und der Einhaltung ad literam der Menschenrechte.