Migration in Sprache und Kultur

Internationale Tagung „Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsforschung“

Mariana Duliu (rechts), Direktorin des Schillerhauses, präsentiert die Organisatorin der Tagung, Prof. Raluca Rădulescu (links) vom Institut für Germanistik an der Universität Bukarest. Vertreten waren 14 Experten aus Rumänien, Luxemburg, Deutschland, Griechenland, Spanien, Italien und Polen. Ziel der Arbeitsbesprechungen am Rande der Veranstaltung war, die Perspektiven einer interdisziplinären internationalen Forschung zu Migration, Literatur und Kultur auszuloten.
Foto: Nina May

Wenn Kulturen und Sprachen sich kreuzen, sich überlappen oder vermengen, bereichern oder anecken, sich aneinander reiben oder zusammenfließen, ist fast immer Migration im Spiel. Ein Begriff, den man derzeit eher skeptisch betrachtet und mit Einwanderern sowie den damit verbundenen Überfremdungsängsten assoziiert. So wird denn auch der Begriff „Migrationsliteratur“ vielseitig diskutiert, von Autoren und Philologen teils abgelehnt, teils akzeptiert, und dennoch als Multiplikator benutzt, weil er im Windschatten der politischen Ereignisse Aufmerksamkeit garantiert. Ist „Migrationsliteratur“ eine nützliche Kategorisierung für Philologen – oder vom Inhalt ablenkender Ballast? Dass Sprachforscher sich hierzu nicht einig sind, ging auch aus den Diskussionen auf der internationalen Tagung „Interdisziplinäre Perspektiven auf die deutschsprachige Migrationsforschung“ am 1. und 2. Februar im Kulturhaus „Friedrich Schiller“ in Bukarest hervor. Fest steht jedoch, dass die Beschäftigung mit Erfahrungen in der Fremde, mit Perspektivwechseln, Interkulturalität und Mehrsprachigkeit, dem Erleben in transnationalen Räumen, aktueller ist denn je.

Der Realität ins Auge blicken

„Globalisierung ist eine Tatsache, mit der wir uns besser früher als später auseinandersetzen“, mahnt Mircea Mocanu, Head Officer der rumänischen Mission der Internationalen Organisation für Migration (IOM), in Bezug auf die Herausforderungen der Flüchtlingsbewegungen nach Europa. Die 1951 gegründete Institution ist mit 162 Mitglieds- und neun Beobachterstaaten die weltweit führende regierungsübergreifende Organisation, die sich mit dem Thema Migration befasst. Migration ist kein neues Phänomen – es gab sie in der Steinzeit, im römischen Reich, ausgelöst durch Kriege, Klimawechsel und Katastrophen, klärt Mocanu auf und fügt an: Es wird sie immer geben! Auch der bevorstehende Klimawechsel wird noch heftige Migrationswellen auslösen. Australien oder Kanada haben die Herausforderung längst erkannt und angenommen – Europa im Vergleich macht erst Baby-Schritte, kritisiert der Experte. Hier erlebt man derzeit einen Schmetterlingseffekt: Gerade mal eine Million Einwanderer im letzten Jahr trafen auf eine halbe Milliarde Europäer. Dennoch gibt es massive Überfremdungsängste. Dasselbe passierte allerdings, als die Länder des ehemaligen Ostblocks der EU beitraten – trotzdem wurden Wege der Integration gefunden, gibt Mocanu zu Bedenken.

Derzeit sorgen vor allem Flüchtlinge aus Syrien für Zwiespalt. Ist Europa verantwortlich, die Folgen ihres Krieges auszubaden? Nur vordergründig ist der Krieg Auslöser des Flüchtlingsandrangs nach Europa, rückt Mocanu das Bild zurecht. Tatsächliche Ursache sei eine über vier Jahre herrschende Dürre in Syrien, die der Wirtschaft schweren Schaden zugefügt hat. Menschen, die einen gewissen Standard gewöhnt waren, sahen sich auf einmal gestrandet, was wiederum zu politischen Unruhen führte. Schuld ist also der Klimawechsel! „Eine Situation, die auch Europa jederzeit treffen kann“, warnt Mocanu.
Anfangs wichen die Menschen in die Nachbarländer aus, auf baldige Rückkehr hoffend. Erst als der Krieg andauerte und z. B. die Frage nach dem Schulbesuch der Kinder drängte, begann die Auswanderungswelle nach Europa auf der Suche nach Stabilität. „Wir würden in derselben Lage nicht anders handeln!“ meint der Experte. In dem Bemühen, die Flüchtlinge zu integrieren, setzt die IOM auch auf Aufklärung der Bevölkerung. Wenn die Menschen die Bedürfnisse der Flüchtlinge kennen und verstehen, werden Schwarze oder Muslime z. B. nicht mehr bei der Wohnungssuche abgewiesen, mit dem Argument, sie könnten Terroristen sein. Ohnehin wünscht sich der Großteil, nach Syrien zurückzukehren, wie die Fallstudien zeigen.

Der Mensch als Kontinuum

Prof. Christel Baltes-Löhr aus Luxemburg geht das Thema aus einer völlig anderen Sicht an. Sie definiert den Menschen als Kontinuum am Beispiel von Geschlecht, Migration, Raum und Kultur, will Polarisationen auflösen und so für mehr Toleranz plädieren. Als Kontinuum bezeichnet sie die Variationsbreite, die sich zwischen „männlich“ und „weiblich“ auftut: chromosomatisch eindeutig als XX und XY, lässt sie sich phänotypisch in vielen Fällen nicht festlegen. Es gibt Menschen mit männlichen oder weiblichen Geschlechtsorganen, aber auch Fälle ohne eindeutige oder mit doppelt angelegter Geschlechtlichkeit. Unabhängig davon fühlen sich Menschen dem äußerlich erkennbaren Geschlecht nicht immer emotionell zugehörig. Während früher nur männlich und weiblich – mit den jeweils zugeordneten Verhaltensstereotypen – gesellschaftlich akzeptabel waren, hat sich das Bild im Laufe der Zeit gewandelt.

Als erste Veränderung wurde die Vorherrschaft des Männlichen gebrochen, weibliche Eigenschaften waren gefragt. Die zweite Veränderung bestand in der Akzeptanz einer Pluralität aus sogenannten männlichen und weiblichen Eigenschaften in einer Person. Baltes-Löhr plädiert daher für eine Definition des Geschlechts als vierdimensionales Kontinuum aus Körper (geschlechtlicher Phänotyp), Gefühl (emotionelle Zugehörigkeit), Verhalten (männliche/weibliche Eigenschaften) und Begehren (gleich- oder gegengeschlechtliche Partnerwahl). Das Modell wird anschließend auf die Migration übertragen: sesshaft/migrierend, Einwanderung/Auswanderung, eigen/fremd etc. lauten die diesbezüglichen Polaritäten, die Baltes-Löhr in ein kontinuierliches Profil überträgt. Will heißen: Es gibt ihn nicht, „den Migranten“, sondern nur eine stufenlose Skala von mehr oder weniger sesshaften Menschen, die zudem je nach Lebensphase wandelbar ist.

Migrationsliteratur fördert Empathie

Prof. Aglaia Biloumi aus Athen präsentiert die Idee eines interkulturellen Literaturtrainings – eine Art Coaching durch Vorlesen und Rollenspiele. Geeignet sind Erzählungen, in denen ein spielerischer Identitätswandel oder ein Wechsel der Sichtweise des Protagonisten die Empathiefähigkeit gegenüber dem zunächst Fremden, Andersartigen fördert. Als Handlungsbeispiel erwähnt sie einen Roman über einen Schriftsteller, der sich in einen ihm vom Sehen bekannten Chinesen hineinversetzt und diesen in der Ich-Form beschreibt. Doch als er seinem Protagonisten im Traum begegnet, erlebt er eine böse Überraschung: Der Chinese stellt ihn zur Rede, er fühle sich bitter missverstanden und einseitig dargestellt! Darauf entspinnt sich ein Frage-Antwort Spiel und schließlich eine Diskussion, die den Perspektivwechsel herbeiführt.
Dass Migrationsliteratur ein Schlüssel zum besseren Verständnis zwischen stark unterschiedlichen Kulturen sein kann, verdeutlicht auch Prof.

Jesus Perez Garcia aus Spanien am Beispiel der Werke der Schriftstellerin Yoko Tawada. In „Das Bad“ und „Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch von 22 Frauen“ geht es um das japanische Verständnis von Innen und Außen im Sinne von vertraut und fremd, stets ausgehend von der eigenen Körperlichkeit. Die Gegenüberstellung des Innen und Außen sei für den Japaner ein Instrument der Selbsteinschätzung, so Perez Garcia. Japaner hegen starkes Misstrauen Fremden gegenüber, erklärt er. Die Gesellschaft wird in „uns“ und „die anderen“ unterteilt, wobei die Zugehörigkeitsrahmen stets neu definiert werden. So vereinigen sich z. B. Konkurrenten schnell zu einem „wir“ (Innen) gegenüber Ausländern (Außen). Dies zeigt sich auch in der Sprache: „Waijin“, der Begriff für Japaner, bedeutet „Mann der Harmonie“, während „gaijin“ den Ausländer bezeichnet und Harmoniebruch suggeriert. Der Vortragende, selbst mit einer Chinesin verheiratet, illustriert dies anhand einer Anekdote: „Wenn meine Frau mit anderen Chinesen spricht, sagt sie über mich ‚der Ausländer‘ – oder im besten Fall ‚mein Ausländer‘!“
Die literarische Übersetzung aus dem Japanischen wird jedoch durch die Mehrdeutigkeit der Schriftzeichen erschwert. So bedeutet „innen“ auch „Familie“ und „Haus“, „Yin“ und „Yang“ steht auch für Mond und Sonne oder für die Geschlechtsorgane, „Gras“ bedeutet gleichzeitig „Schriftrolle“. Die Mehrdeutigkeit bleibt für den japanischen Leser stets offen, während man sich in der Übersetzung festlegen muss. Grenzen des Interkulturellen Verständnisses zeigt Dr. Miriam Llamas Ubieto (Madrid) ebenfalls am Beispiel Yoko Tawada auf. Sie kommt zu dem Schluss, es sei nicht möglich, einen gemeinsamen Standpunkt zu finden, der die kulturellen Unterschiede zwischen dem asiatischen Raum und Europa überwindet.

Jenseits gesprochener Worte

Mit der Übersetzung von kulturspezifischen Elementen befasst sich auch Prof. Nicoletta Gagliardi aus Salerno am Beispiel von Filmkomödien. Sie vergleicht den ins Deutsche übertragenen italienischen Klamaukfilm „Willkommen im Süden“ mit der italienischen Variante der deutschen Paukerkomödie „Fack yu Göthe“. In beiden Streifen gilt es, lokales Flair, Wortspiele, Anspielungen und Pointen in den anderen Kulturraum zu transportieren, ohne der sichtbaren Handlung zu widersprechen. Wie vermittelt man zum Beispiel in der deutschen Version das nötige italienische Flair? Durch das Nichtübersetzen von Anreden (Signora), Ausrufen (Bello! Pronto!), Bitte/Danke oder Grüßen (Ciao), erklärt die Vortragende, aber auch durch italienische Sprachmelodie, entsprechende Lautstärke und das Rollen des R. Wortspiele und Pointen müssen gegebenenfalls ausgetauscht werden. Auch das Humorverständnis ist stark kulturell geprägt. Was im Italienischen witzig ist, erzeugt beim Deutschen nicht unbedingt Lach-erfolg.

Gelungen ist das Experiment im ersteren Fall: Der Film „Willkommen im Süden“ gilt trotz mangelnder Ernsthaftigkeit der Handlung als Kulturdokument, das sogar touristisches Interesse an Süditalien ausgelöst hat. Bei „Fack yu Göthe“ hingegen ist es nicht geglückt, den Mix aus „Asi-Multikulti-Schul- und Tankstellendeutsch“, der in der Originalversion als authentisch rüberkommt, ins Italienische zu übertragen. Die Komik des Films besteht darin, dass sich der Hilfslehrer schlimmer ausdrückt und benimmt als die Schüler und sich gerade damit – als einziger im Lehrkörper – in der deutschen Problemschule durchsetzen kann. Dies kommt jedoch vor allem beim italienischen Erwachsenen nicht an. Der Film behandelt zwar ein hochaktuelles Migrationsthema, ist aber vielleicht unübersetzbar, schlussfolgert die Vortragende.