„Minister, die ein Land nicht kennen, entscheiden falsch“

Gespräch mit der Bundestagsabgeordneten Dr. Susanne Kastner

Dr. Susanne Kastner: „Wenn wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit gleich gemacht hätten, dann könnte man jetzt allen ausgewanderten Rumänen, Sintis und Roma Arbeit anbieten.“
Foto: Zoltán Pázmány

Die deutsche Politikerin (SPD) Susanne Kastner setzt sich seit 1990 politisch und sozial für Rumänien ein. Die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages ist Vorsitzende der Deutsch-Rumänischen Parlamentariergruppe, des Deutsch-Rumänischen Forums sowie der Rumänien-Soforthilfe. Und sie war 24 Jahre lang Bundestagsabgeordnete. Ihr letztes Mandat beendet Kastner am 22. Oktober. In dieser Funktion besuchte sie Rumänien Anfang Oktober zum letzten Mal. ADZ-Redakteur Robert Tari sprach mit der Politikerin über ihr langjähriges Engagement in Rumänien sowie ihre „Abschieds-Tournee“.   

Sie verabschieden sich als Bundestagsabgeordnete. Ist es auch ein Abschied von Rumänien?

Es ist kein Abschied von Rumänien, weil mein Herz an diesem Land hängt und wo das Herz hängt, nimmt man nicht gänzlich Abschied. Ich werde weiter in irgendeiner Form für Rumänien arbeiten, das werden wir noch sehen. Ich werde meine Stiftung weitermachen, ich werde versuchen, auch politisch noch ein bisschen beratend mitzumachen. Also, ein Abschied von Rumänien wird es mit Sicherheit nicht, aber ein Abschied als Bundestagsabgeordnete von Rumänien, das wird es. 

Sie haben eine über 20-jährige Beziehung zum Land aufgebaut. Wie kam es zu ihrem Engagement in Rumänien?

Ich kam von mir aus selber gar nicht nach Rumänien. Ich wurde von einem deutschen Arzt aus Arad während der Revolution angerufen, weil sie keine Decken und keine Medikamente hatten, und er hat mich gefragt, ob man damit nicht aushelfen könnte. Das habe ich auch gebracht, das war damals kurz nach der Revolution. Und ich habe das Elend dieses Landes gesehen, wie es damals war, und dann habe ich mir gedacht: Da muss man helfen. Zuerst habe ich etwas unkoordiniert mit Hilfstransporten geholfen. Und dann habe ich mir gedacht, wenn ich schon so viel Soziales mache, dann kann ich es auch politisch machen. Dann habe ich den Vorsitz der Parlamentariergruppe übernommen, dann das Deutsch-Rumänische Forum gegründet und so ging die Arbeit halt weiter, weil ich eigentlich auch festgestellt habe, dass für die Deutschen Rumänien ein vergessenes Land war. Rumänien in Deutschland mehr in den Blickpunkt zu richten, war schon ein starkes Stück meiner Arbeit.

Was hat Sie damals an dem Land am meisten bewegt?

Die Menschen. Die Menschen sind freundlich. Die Menschen, die damals gar nichts hatten, haben uns mit offenen Armen aufgenommen. Wir konnten bei wildfremden Menschen übernachten und diese Freundlichkeit, diese Selbstverständlichkeit, die kenne ich von Deutschland nicht. So sind wir Deutschen nicht gelagert. Aber von Rumänien kannte ich es und dann habe ich mir gedacht: Solchen Menschen muss man helfen.

Finden Sie, dass sich das Bild von Rumänien in den letzten 20 Jahren in Deutschland verändert hat?

Es hat sich verändert. Rumänien ist mehr in den Blickpunkt gekommen. Aber leider rückt Rumänien in den Blickpunkt der deutschen Öffentlichkeit oftmals durch negative Ereignisse. Der vor einem Jahr hochgeputschte „Staatsstreich“ – den ich jetzt eigentlich nicht in den Mund nehmen möchte, weil es kein Staatsstreich war – rückte Rumänien ganz negativ in die deutsche Öffentlichkeit. Und jetzt natürlich auch durch die Sinti- und Roma-Frage. Ich wünsche mir aber, dass Rumänien auch als Reiseland, als ein Land gastfreundlicher Menschen und als ein Wirtschaftsland in den Blickpunkt der Deutschen rückt. Und auch als kulturelles Land: Rumänien hat eine fantastische kulturelle Vergangenheit. Da haben wir Veranstaltungen in Berlin gemacht, die auch Früchte trugen. Aber das sind immer drei Schritte vorwärts und einer zurück. Es ist eine zähe Arbeit, aber ich denke, dass es sich auch lohnt.

Von der deutschen Politik spürt man oft eine gewisse Zurückhaltung, wenn es um Entscheidungen geht, wie etwa Rumäniens EU-Beitritt, die Arbeitsfreizügigkeit oder eben der Schengen-Beitritt.

Das ist leider so. Den deutschen Arbeitsmarkt erst 2014 zu öffnen, war eine Entscheidung der Bundesrepublik Deutschland, in anderen Ländern war es anders. Heute stellt es sich heraus, dass es ein eklatanter Fehler war. Wenn wir die Arbeitnehmerfreizügigkeit gleich gemacht hätten, dann könnte man jetzt allen ausgewanderten Rumänen, Sintis und Romas Arbeit anbieten und wenn sie diese Arbeit nicht nehmen, dann muss man auch nicht die Sozialleistungen bezahlen, unter der die Städte ja jetzt so stöhnen. Also, das war ein eklatanter Fehler, den wir gemacht haben. Ich habe das immer gesagt, aber in der Politik ist es halt so, dass nicht unbedingt auf die gehört wird, die das Land kennen und damit bin ich beim zweiten Punkt: Ich glaube, die Beziehungen zwischen den einzelnen Regierungen, zwischen den Parlamenten muss noch deutlich vertieft werden. Das war eine Zeit lang sehr gut. Vor dem EU-Beitritt war das sehr gut, da gab es einen Austausch von Ministern. Nach der Revolution gab es einen Austausch zwischen Ausschüssen und dem Parlament. Das war sehr viel intensiver und das ist in den letzten Jahren wieder völlig abgeflacht. Minister, die ein Land nicht kennen, entscheiden falsch. Ich will jetzt keine Minister in Deutschland kritisieren, aber ich sage, wer das Land nicht kennt, kann es auch nicht beurteilen und dann beurteilt man es falsch und das ist beim Schengen-Beitritt der Fall.

Woran, glauben Sie, hapert es an der rumänischen Politik? Was sind die Probleme der heutigen rumänischen Politiker?

Bei der Krise, die vor einem Jahr war, war das Problem der rumänischen Regierung, dass sie nicht kommunikativ genug war. Wenn man mit niemandem spricht, wenn man nicht zum Telefonhörer langt und seine Parteifreunde zuerst in den anderen Ländern anruft, dann kann man nicht erwarten, dass sie Verständnis haben für die eigene Situation. Die muss man dann auch erklären, wenn es so ist. Das war ein eklatanter Fehler. Ich glaube, die rumänische Politik hat inzwischen daraus gelernt. Der Austausch wird besser. Jetzt hapert es ein bisschen von unserer Seite, aber wir hatten jetzt erst Wahlen. Wir müssen abwarten, welche Regierung in Deutschland kommt. Das wird auch noch ein ganz spannendes Thema und das können wir dann wieder mehr forcieren. Das muss man auch, weil man auch vom politischen Austausch lebt. Und der Austausch darf nicht nur zwischen Deutschland und Frankreich passieren und gelegentlich zwischen Deutschland und England, sondern der muss in Europa auch zwischen Deutschland und den kleinen Ländern funktionieren.

Sie setzen sich seit 1990 sozial für das Land ein. Was glauben Sie, aus Ihrer persönlichen Erfahrung, wie entwickelt sich der soziale Bereich in Rumänien?

Er entwickelt sich eindeutig zu langsam. Das geht zu Lasten der Kinder, der Behinderten und der alten Menschen. Es ist so. Wir haben auch einen Dachverband der deutschen NGOs gegründet und unsere Forderungen gegenüber der rumänischen Regierung kundgetan. Das ist auch wichtig, weil seitens der rumänischen Regierung keine Entscheidungen mehr getroffen werden dürfen, die zu Lasten der Einrichtungen im Land gehen. Und was ich besonders von meinen sozialdemokratischen Kollegen erwarte, ist, dass sie die soziale Frage wirklich an die Spitze stellen. Und zur sozialen Frage gehört auch die Bildungsfrage. Bildungseinrichtungen in Rumänien ist der Schweiß der Tüchtigen wert, weil die Bildungseinrichtungen nicht so besonders in Rumänien sind. Ich denke, da muss die Regierung ihr ganzes Augenmerk drauf legen, obwohl auch ich weiß, dass die soziale Frage auch eine finanzielle Frage ist. Man kann nicht alles gleich von Anfang an erwarten. Wenn man es nicht bezahlen kann, dann kann man es halt nicht. Da ist viel Zeit in der Vergangenheit vertan worden, weil man geglaubt hat, dass wenn man nur auf die Wirtschaft guckt und es der Wirtschaft gut geht, dann geht es auch den Menschen gut. Das ist ein Irrtum. Die soziale Frage steht bei uns mit in der Verfassung, wir sind eine soziale Marktwirtschaft und das zeigt sich gerade in der Krise wieder, wie stabil das ist und da muss die rumänische Regierung schon noch was tun.

Seit acht Jahren setzen Sie sich für das gute Funktionieren des Waisenhauses in Lippa ein. Was sind die Probleme, mit denen so eine Einrichtung in Rumänien zu kämpfen hat?

Sie hat in der jüngsten Vergangenheit mit dem Einstellungsstopp im öffentlichen Dienst gekämpft. Die Regierung hat ja entschieden, das nur jeder siebte Angestellte wieder ersetzt werden darf, das heißt, es müssten sieben Leute aus einem Haus ausscheiden, bevor wieder ein neuer kommt. Das ist zum Desaster geworden. Ich habe in Temeswar etliche Kindergärten besucht, die mir alle das erzählt haben, dass sie nicht mehr genügend Personal haben und in den kleinen Kinderhäusern ist es gleich zweimal ein Desaster, weil da keine sieben Leute sind und da ist dann zum Schluss einer alleine und das geht gar nicht. Das war das Hauptproblem, das zweite war natürlich die Bezahlung, weil man in der Wirtschaft mehr verdient als in einer sozialen Einrichtung. In der jüngsten Vergangenheit hat die Regierung auch kein Augenmerk draufgelegt, wie der Urlaub und die Freizeit von den Mitarbeitern in solchen Häusern gestaltet werden soll. Die konnten zum Teil nicht einmal in den Urlaub gehen, weil man die Kinder nirgends unterbringen konnte. Da hat die Kreisbehörde gesagt, die Kinder kommen ins andere Kinderhaus und dann waren die Kinderhäuser vier Wochen völlig überfüllt mit 20 Kindern und zu wenig Personal. Das sind alles Geschichten, die kann man so nicht machen. Da muss man auch einen anderen Maßstab anlegen, als in Kommunalbehörden oder in anderen Behörden, weil man da mit Menschen umgeht und wo man mit Menschen umgeht, kann man nicht das Personal abziehen.