Multikulturelles Zusammenleben mit Durchdringung

Lucian Boia, Konrad Gündisch, Andrei Pleșu: Die Rolle der deutschen und anderer Minderheiten beim Aufbau des modernen rumänischen Staats

Von links: Pleșu, Gündisch, Ungar-Țopescu, Boia
Foto: George Dumitriu

Etwas „nemțește“ (deutsch) zu tun, heißt im rumänischen Sprachgebrauch, seine Sache gut zu machen. Als Tugenden schreibt man den Deutschen hierzulande Fleiß, Pünktlichkeit und Ehrlichkeit zu. Das Image der deutschen Minderheit in der rumänischen Gesellschaft könnte nicht besser sein. Kein Wunder, dass sie als Brückenbauer gelobt wird, dass Politiker aus Deutschland sie als Anlaufstelle würdigen, dass die deutsch-rumänische Freundschaft längst verbrieft und institutionalisiert ist: Es gibt ein Deutsch-Rumänisches Forum (DRF) in Berlin und ein Rumänisch-Deutsches Forum für bilaterale Kooperation (FCBRG) in Bukarest. Letztes Jahr wurde das 25. Jubiläum des deutsch-rumänischen Freundschaftsvertrags gefeiert, die Hauptveranstaltung des FCBRG war diesem Ereignis gewidmet. Dieses Jahr steht sie unter dem Zeichen der Hundertjahrfeier Rumäniens.

Für den 24. September lud das FCBRG zu einer Diskussionsveranstaltung zum Thema „100 Jahre – das moderne Rumänien und die Rolle der Minderheiten. Rolle der deutschen Minderheit als Impuls zum gesellschaftlichen Dialog“ in die Zentralbibliothek der Bukarester Universität ein. Es diskutierten Andrei Pleșu, Schriftsteller, Philosoph und Vorsitzender des FCBRG, und die Historiker Konrad Gündisch und Lucian Boia unter Moderation von Christel Ungar-Țopescu.

Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung will trotzdem nicht so recht aufkommen. Denn die Hundertjahrfeier wird von hässlichen populistischen Kampagnen gegen die deutsche Minderheit und ihre Vertretung, das Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR), überschattet. Die Urheber? Ausgerechnet in den Reihen der Regierungspartei und der rumänischen Regierung. Die Gründe? Stimmenfang. Machtspiele. Statt einer offiziellen Richtigstellung peinliches Schweigen...

Rumänien könnte ein Beispiel sein für hundert Jahre plurikulturelles, plurireligiöses und plurisprachliches Zusammenleben in Frieden, so der deutsche Botschafter Cord Meier-Klodt, Vizepräsident des FCBRG, in seiner Ansprache. „Ein Mini-Europa vor seiner Zeit – man müsste dies im Zusammenhang mit der Hundertjahrfeier öfter erwähnen!“ Doch dann mahnt der sonst so freundliche Fürsprecher seines Gastlandes deutlich an: „Es wäre hilfreich, wenn sich die gesamte Regierung öffentlich von diesen Diffamierungen distanzierte!“

Angriffe seit dem Wahlkampf 2014

Gleich mehrere Redner griffen die im Wahlkampf um das Präsidentenamt begonnene und seither anhaltende Diffamierungskampagne gegen die deutsche Minderheit auf. Eigentlich gegen den damaligen Kandidaten, Staatspräsident Klaus Johannis, gerichtet, gipfelte diese jüngst mit der Behauptung des PSD-Abgeordneten und Ex-Bildungsministers Liviu Pop, das DFDR sei Nachfolger einer verbotenen Nazi-Organisation. Ein entsprechender Facebook-Beitrag von Staatsrat Darius Vâlcov, immerhin Berater der Premierministerin, stellte Johannis mit Hitlerbärtchen dar. Die Abgeordneten aller Minderheiten sowie das DFDR forderten daraufhin geschlossen die Entlassung Vâlcovs. Von Premierministerin Dăncilă keine Reaktion. Auch die schriftlichen Aufforderungen an die Regierung zur Stellungnahme, sowohl seitens des DFDR als auch aus Deutschland, z. B. vom Bundesbeauftragten Dr. Bernd Fabritius, blieben unbeantwortet. Absicht? Nachlässigkeit? Oder nur Unhöflichkeit? Botschafter Meier-Klodt betonte explizit, dem Außenminister Teodor Meleșcanu dankbar zu sein, weil er zum Besuch seines Amtskollegen Heiko Maas diese Angriffe klar verurteilt hatte. Auch aus Kreisen von Politik und Zivilgesellschaft hätte es Solidaritätsbekundungen gegeben. Die ansonsten so Facebook-affine Premierminsterin – so gibt man sich volksnah, allerdings spricht das Niveau ihrer Beiträge Bände – übt sich in „vornehmer“ Zurückhaltung.

Auf der Veranstaltung dann immerhin eine offizielle Stellungnahme seitens Staatssekretär George Ciamba im Außenministerium: Die Regierung, einschließlich Premierministerin Dăncilă an der Spitze, lehne strikt jedwede Verleumdung der deutschen Minderheit ab. Die Freundschaft zwischen Rumänien und Deutschland werde sich weiterentwickeln, sowohl bilateral als auch auf europäischem Niveau. „Wir versichern unsere Anerkennung für die Loyalität dieser Minderheit über die Jahre und als Modell interethnischen Zusammenlebens.“

Auch Präsidentenberater Sergiu Nistor verurteilt die absurden Lügenbehauptungen gegen die deutsche Minderheit und betonte die Bedeutung dieser und anderer Minderheiten beim Aufbau des modernen rumänischen Staats.

DFDR-Vorsitzender Dr. Paul-Jürgen Porr erklärte in seiner Rede den Ursprung der Verleumdungen und illustrierte deren Absurdität: Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs hatte die rumänische Regierung beschlossen, alle Deutschen in Rumänien würden fortan durch die Deutsche Volksgruppe vertreten, und hatte dieser den gesamten Besitz der Deutschen zugewiesen. Nachdem die Deutsche Volksgruppe später als faschistische Organisation verurteilt und aufgelöst worden war, fiel der Besitz – z. B. Schulgebäude, die den Deutschen schon immer gehört hatten - an den rumänischen Staat. Im Rahmen der Rückerstattungen soll dieser Besitz nun dem DFDR als aktueller Vertreter der deutschen Minderheit übertragen werden. „Zu behaupten, das Forum sei eine Nazi-Organisation, wäre so, als würde ich meinen Großvater als Kommunisten bezeichnen, der, nachdem er zuerst enteignet wurde, seine ehemaligen Ländereien dann als Mitglied der CAP bearbeiten musste“, spottet Dr. Porr.

Michael Schmidt, Gründungsmitglied und Generalsekretär des FCBRG, hat indessen eine Werbekampagne für die Reputation der deutschen Minderheit gestartet. Gezeigt wurde ein erster Kurzfilm der Michael Schmidt Stiftung aus der Reihe „Deutsche Minderheit. 100 Schicksale in 100 Jahren modernem Rumänien“, der zehn Persönlichkeiten vorstellt. Opernsängerin Anita Hartig, Unternehmer Werner Braun, Schriftsteller-Pfarrer Eginald Schlattner, Bischofsvikar Dr. Daniel Zikeli, der Unternehmer Michael Schmidt und andere erzählen darin über Werte und Leistungen der Deutschen in den Bereichen Kultur, Schule, Kirche, Berufsausbildung und Wirtschaft in Rumänien.

Beitrag zur Modernisierung des Staats

In der anschließenden Diskussion werden historische Hintergründe aufgerollt und Beiträge der Minderheiten zum heutigen Rumänien gewürdigt. In welcher Situation sich die Deutschen im vereinigten Königreich Großrumänien nach 1918 wiederfanden, will Ungar-Țopescu als Einstieg von Konrad Gündisch wissen. Der Historiker, selbst Siebenbürger Sachse, erklärt: „Im vereinten Großrumänien trafen Deutsche aufei-nander, die keinesfalls eine homogene Gruppe bildeten.“ Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben, Zipser, Landler, Bukowina- und Dobrudschadeutsche – sie alle hatten völlig unterschiedliche historische Erfahrungen. Einige waren vom Einfluss des Ottomanischen Reichs geprägt, andere von der Österreich-Ungarischen Doppelmonarchie. Manche kämpften mit der Magyarisierungspolitik Budapests. Die Siebenbürger Sachsen nahmen eine in Europa einzigartige Sonderrolle ein: Sie hatten sich auf der Basis der Erklärung von Mediasch 1919 freiwillig für einen Anschluss ihrer Heimat an den Staat Rumänien entschieden. Auch die Deutschen aus dem Altreich waren freiwillig nach Rumänien gekommen, ihre Erfahrungen haben vor allem Mitte des 19. Jh. viel zur Entwicklung des Landes beigetragen, hebt Gündisch hervor. „Sie standen klar und loyal zu dem Staat, in dem sie sich niedergelassen hatten.“ Die Situation der Sachsen war eine andere: Sie taten diesen Schritt auf der Basis der von den Rumänen zugesagten Privilegien. Diese Rechte, zuvor mit den Ungarn verbrieft, waren von diesen zunehmend vernachlässigt worden, nachdem Siebenbürgen 1867 unter die Verwaltung Budapests gefallen war.

Bereits im 19. Jh. fand eine starke Annäherung zwischen deutscher und rumänischer Kultur statt, leitet Lucian Boia auf die Frage des Beitrags der Minderheiten zum modernen rumänischen Staat ein. Unter österreichisch-ungarischer Herrschaft erfuhr die rumänische Gesellschaft eine starke Modernisierung und Verwestlichung. Die türkischen Einflüsse in der Mode verschwanden, wurden von französischen und deutschen abgelöst. 1862 wurde das lateinische Alphabet eingeführt, zuvor schrieb man die rumänische Sprache in kyrillischer Schrift. Die unter der Herrschaft der Phanarioten unter hellenistischem Einfluss stehenden Lehranstalten in Moldau und Walachei orientierten sich zunehmend an der deutschen Wissenschaft. „Bis 1914 hatte Deutschland mehr Nobelpreise in Physik, Chemie und Medizin als Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten zusammen“, bemerkt Boia. „Ohne die deutsche Präsenz im literarischen und akademischen Milieu wäre unsere europäische Integration langsamer vonstatten gegangen“, ergänzt Pleșu.

Doch auch die Rolle der anderen Minderheiten dürfe man nicht vernachlässigen. „Unsere Modernität in Rumänien verdanken wir den Minderheiten“, behauptet Pleșu und illustriert: „Wir spazieren durch Bukarest und vergessen den Einfluss der tschechischen Architekten. Dann die Nationalbibliothek, das Athenäum, das ‘Athenee Palace’ – alle drei von französischen Architekten konzipiert. Unsere Hymne, ‘Deșteaptă-te române’? Die Melodie stammt von Anton Pann, der in Bulgarien geboren wurde und Petrov hieß. (Anm.: eigentlich Antonie Pantoleon-Petroveanu). Die Begründer der rumänischen Philologie? Sie hießen Lazăr Șăineanu, Hariton Tiktin und Moses Gaster – alle drei von der jüdischen Minderheit.“ Der Bildhauer Karl Storck aus Hanau gründete die Schule der Schönen Künste in der Hauptstadt, fährt er fort. Nachdem ihn sein Schwager aus Deutschland besucht hatte, schrieb ihm dieser beeindruckt: Hanau sei mit Bukarest nicht zu vergleichen. Weitere Beispiele sind der Historiker und Staatsmann Nicolae Iorga mit griechischen Vorfahren mütterlicherseits, der Dichter Vasile Aleksandri und der Schriftsteller Alexandru Xenopol, beide mit jüdischen Ahnen.

Victor Ponta und der Sportmoderator Cristian Țopescu, fährt Pleșu mit zeitgenössischen Rumänen fort, hätten Wurzeln in der italienischen Minderheit. Er selbst erwähnt eine griechische Urgroßmutter. „Niemand ist pur!“, schließt der Philosoph und regt an: „Wir sollten mal ein bisschen auf unsere eigenen Gene schauen.“

„Im Bukarest des 19. Jahrhunderts waren ein Drittel Fremde“, fährt er fort. Doch sei es beileibe nicht so, dass die Rumänen ohne diese äußeren Einflüsse unfähig gewesen wären. „Sie waren offen und gute Gastgeber, die ihre Zuwanderer willkommen hießen und ermutigten, ihr Wissen zum Wohl der Gesellschaft einzusetzen!“ Multikulturelles Zusammenleben mit Durchdringung und Kooperation laute das Erfolgsrezept, nicht abgeschottetes, Ghettomäßiges nebeneinanderher leben, folgert er. „Die Rumänen besaßen die Großzügigkeit, die Expertise von jedem, der sich hier niederlassen wollte, wertzuschätzen.“

Gibt es Patriotismus für Minderheiten?

Kann es für Angehörige einer Minderheit – ausgewandert oder in Rumänien lebend – Patriotismus geben? Pleșu nennt das Beispiel eines rumänischen Freundes, der in den USA lebt und betont, beide Länder als Heimat zu empfinden. „Konflikte gibt es für ihn nur, wenn sich die Länder gegenseitig kritisieren.“ Auch Gündisch als ausgewanderter Sachse empfindet sich als Doppelpatriot: „Wir sind hier nicht fremd, wie haben uns diesen Teil unserer Identität bewahrt.“ Selbstverständlich spricht er Rumänisch, so wie es früher für Deutsche in Rumänien ganz natürlich war, zwei- oder dreisprachig zu leben. Die meisten Sachsen können noch heute Rumänisch, auch wenn sie als Kind ausgewandert sind, be-obachtet Ungar-Țopescu. Ein Zeichen von Verbundenheit mit der alten Heimat. Und nennt als Kontrast das Beispiel eines nach Italien ausgewanderten Fußballers, der bei einem Besuch in Rumänien ostentativ schlecht Rumänisch sprach und immer wieder fragte: „Wie sagt man bei euch?“ Ein Zeichen von Bruch mit der alten Heimat. Fazit: Menschen mit zwei Heimaten kann es geben.

Auch das Kulturerbe einer Minderheit kann – moralisch gesehen – beiden gehören, dem Urheber und dem Erben. Woraus sich für beide eine Motivation zum Schutz desselben ergibt. Für den Erhalt des sächsischen Erbes jenseits der staatlichen Verpflichtung durch das Amt für Denkmalschutz engagieren sich sowohl verbliebene als auch ausgewanderte Sachsen sowie Rumänen.

In dieser Hinsicht kann Rumänien mit seinen Minderheiten durchaus ein Modell für Europa sein. „Heutzutage kann man nicht mehr ohne Zugehörigkeit leben – und Europa soll gar nicht einheitlich sein“, meint Pleșu und erinnert: „Wir haben dafür gekämpft, dazuzugehören.“ Nationalistische Töne einiger Politiker, die die EU als kolonisierende Macht sehen, findet er „einfach nur peinlich.“

Die deutsch-rumänische Freundschaft wird weiter bestehen – trotz des hässlichen Kratzers in ihrem Gesicht. Viele Menschen setzen sich auf beiden Seiten dafür ein. „Die Brückenfunktion ist für uns nicht nur ein Slogan“, erklärt Dr. Porr. „Wir versuchen, sie mit Leben zu füllen.“ Deutsche Firmen werden von Standorten der deutschen Minderheit mit ihren Schulen angezogen und schaffen Arbeitsplätze für alle. In Hermannstadt/Sibiu stellt das DFDR zum fünften Mal den Bürgermeister – mit weniger als zwei Prozent Deutschen als Wähler. „Nemțește“, kann man dazu nur sagen. Und hoffen, dass es auch weiterhin als Kompliment verstanden wird.