Nach Rumänien gekommen, um zu bleiben

Ian Tilling hilft durch die Organisation Casa Ioana Familien in Not

Casa Ioana Tilling: „Da waren meine Freunde auf der einen Seite und Leute hier, die gesagt haben: Wir brauchen dich wirklich, bitte gib uns nicht auf. Rumänien ist nun meine Heimat, ich möchte hier den Rest meines Lebens verbringen“.

Unmittelbar nach der rumänischen Revolution im Jahre 1989 wurden die westlichen Länder mit schockierenden Bildern aus Rumänien überschwemmt, welche die enorme Armut in Waisenhäusern und Pflegeeinrichtungen zeigten. Als Ian Tilling damals diese Bilder sah, lebte er in Großbritannien und arbeitete bei der britischen Polizei. „In meiner Zeit als Polizist habe ich menschliches Elend und Leid gesehen, aber nichts hätte mich auf das vorbereiten können, was ich in Rumänien vorfand“, sagt er heute. Im Jahr 1990 fasste der Polizist den Entschluss hierherzukommen und zu helfen, wo er kann. „Ich wollte mir ein eigenes Bild von der Lage verschaffen. In den Medien, vor allem im Fernsehen, wird vieles oft pervertiert dargestellt“.

Doch was Ian sah, als er in Plătăreşti ankam, prägte ihn zutiefst. „Ich habe dort Kinder gesehen, die fast acht Jahre alt waren, Windeln trugen und in einem Stall lagen. Sie konnten nicht laufen und als wir sie hochnahmen, um mit ihnen zu spielen, fingen sie an zu schreien. Sie mussten das Spielen erst lernen.“ Doch was unterscheidet Ian Tilling von den tausenden anderen Ausländern, die zu Beginn der 90er Jahre nach Rumänien kamen, das durch die 24-jährige Diktatur von Nicolae Ceauşescu tief erschüttert war. „Viele Menschen wollten helfen und sich ehrenamtlich betätigen, doch ihre Erwartungen wurden nicht erfüllt. Sie spendeten beispielsweise Möbel und andere Dinge und waren enttäuscht, wenn diese einige Monate später verschwunden waren.“ Nachdem Ian Tilling einen Monat mit einer befreundeten Krankenschwester bei einer Kinderinstitution in Plătăreşti gearbeitet hatte, flog er zurück nach Großbritannien und wollte eigentlich nie mehr zurückkehren. „Mein Herz fühlte sich schwer an und die Eindrücke nahmen mich auf eine Weise emotional mit, wie ich es nie zuvor erlebt hatte.“

Als er zwei Jahre später nach einem Zwischenstopp in Bukarest nach Wien reiste, erlebte er einen Schlüsselmoment: „Als ich in Wien aufwachte und in den Tag startete, sah ich all diese Menschen und Schaufenster, alles war farbenfroh. Als ich mich inmitten einer westlichen wohlhabenden Stadt befand, wusste ich, dass ich in so einer Umgebung nicht gebraucht werde. Auf einen kulturellen Schock von West nach Ost war ich eingestellt, doch in diesem Moment erlebte ich einen größeren Kulturschock in Wien“, erinnert sich Ian. Anstatt also den gängigen Weg des pensionierten Polizisten in Großbritannien einzuschlagen, einige Sicherheitsfirmen zu verwalten und ein solides Gehalt zu bekommen, entschied sich Ian Tilling 1992 nach Bukarest zu ziehen, um langfristig etwas zu verändern.

Am Anfang schien dieses Vorhaben auch seitens der rumänischen Regierung gut zu funktionieren. Diese stellte einen Wohnblock in Ferentari zur Verfügung, um darin ein soziales Wohnprojekt auf fünf Etagen einzurichten. „Der Plan war, dass die Kinder von Plătăreşti bei Pflegeeltern wohnen und in einer normalen Gemeinschaft aufwachsen. Leider wurde das nie realisiert, da die Bürokratie der rumänischen Regierung uns einen Strich durch die Rechnung machte und ihre Versprechen nicht hielt.
Das Hauptproblem bestand darin, dass wir uns nicht als rumänische NGO registrieren konnten und somit auch keine Lizenzen hatten. Sie haben alle Versprechen gebrochen und wir mussten alleine zusehen, wo wir mit unseren Vorhaben blieben“. Seine Beharrlichkeit und seine Entschlossenheit, ein soziales Projekt auf die Beine zu stellen, ging auch an den rumänischen Nachbarn nicht vorbei, die ihn liebevoll den „Englezul nebun“, den verrückten Engländer, tauften.

Ian begann sich bei ausländischen Unternehmen vorzustellen und um deren Unterstützung zu bitten – mit Erfolg. Zunächst wurde eine Organisation namens Johanna’s House gegründet, die heute den Namen Casa Ioana trägt. Oft haben ihm seine Freunde aus Großbritannien geraten: „Komm zurück, du bist fertig, in Rumänien kannst du nichts erreichen“. Seine Freunde sammelten sogar Geld für ein Flugticket, damit er nach Hause kommt. Ian lehnte ab und hat ihnen allen das Gegenteil bewiesen. „Da waren meine Freunde auf der einen Seite und Leute hier, die gesagt haben: Wir brauchen dich wirklich, bitte gib uns nicht auf. Rumänien ist nun meine Heimat, ich möchte hier den Rest meines Lebens verbringen“.

Seit über zwei Jahrzehnten gibt es nun die Wohltätigkeitsorganisation Casa Iona, die sich zu Beginn vor allem um Frauen und Kinder kümmerte, die vor häuslicher Gewalt fliehen. „Gerade in den traditionellen Teilen Rumäniens war es manchmal ein langer Weg, bis die physisch und psychisch misshandelten Frauen und Kinder unsere Hilfe gesucht haben“, erinnert sich Ian. 1994 lebte er mit 300 Roma-Familien in baufälligen Wohnhäusern zusammen. Parallel dazu half er lokalen Organisationen in den nächsten Jahren eine Schule für Kinder mit schwerer Behinderung einzurichten sowie einen örtlichen Kindergarten für Roma-Familien.

Im Jahr 1998 kam der damalige Bürgermeister von Bukarest auf Ian Tilling zu und bat ihn, einen Nachtschutz für Obdachlose zu errichten. „Ich hatte damals keine Ahnung, wie man am besten gegen Obdachlosigkeit vorgehen kann. Also traf ich mich drei bis vier Mal die Woche mit ihnen in einem Park. Ich brachte Kaffee mit, wir saßen im Gras und redeten miteinander. Ich bat sie darum, mir zu sagen, was sie in einer Nachtunterkunft brauchen. Außerdem bat ich zwei von ihnen, für den Nachtschutz während der Eröffnungsnacht zuständig zu sein“, erzählt Ian. Als der damalige Bürgermeister während der Eröffnungsnacht sich umsah, fragte er Ian: „Wo ist denn das Personal?“, woraufhin er antwortet: „Es ist dort drüben. Sie sind heute Abend die Vorgesetzten und dürfen Verantwortung übernehmen. Wer hat schon mehr Erfahrung mit diesen Leuten, als sie selbst?“

Die Dankbarkeit, die Ian Tilling durch seine Arbeit erfährt, ist grenzenlos: „Einmal weinte ein Mann vor Freude und sagte, er hätte seit fünfeinhalb Jahren das erste Mal wieder in einem Bett geschlafen. Ein anderer antwortet mir auf die Frage am Morgen, wie er denn geschlafen hätte: Machst du Witze? Ich habe so bequem gelegen, wie noch nie in meinem Leben, ich wollte gar nicht schlafen“. Schnell merkte Ian jedoch, dass ein Bett nicht die Lösung des Problems darstellte. Es musste ein Konzept erstellt werden, welches die Menschen resozialisiert, sie motiviert, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen und auf die Beine zu kommen.

„Mit unseren Sozialarbeitern und ehrenamtlichen Psychologen versuchen wir auch herauszufinden, wo bei der jeweiligen Person die Wurzel des Problems verborgen liegt, was sie überhaupt in die Obdachlosigkeit geführt hat“. Die meisten Menschen verbringen 7 bis 8 Monate in der Casa Ioana, manche auch bis zu einem Jahr. „Jeder soll sich die nötige Zeit nehmen und nichts überstürzen. Dann kann es nämlich passieren, dass sie die nächste Krise wieder aus der Bahn wirft“, erklärt Ian. Ansonsten beschäftigt Casa Ioana auch keine Mitarbeiter wie Reinigungskräfte. „Jeder ist selbst für seine Räumlichkeiten verantwortlich. Gib Menschen Verantwortung und sie werden sie tragen. Das ist Teil des Lebenscoachings. Jeder hat ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben, dazu gehören auch sinnvolle und vor allem alltägliche Aktivitäten“.

Derzeit bietet Casa Ioana Platz für 20 Familien und neun alleinstehende Frauen. Das jährliche Budget liegt bei bescheidenen 100.000 Euro, aus denen 80 Prozent von privaten Spendern stammen und 20 Prozent von der rumänischen Regierung. Tilling selbst zahlt sich kein Gehalt aus, sondern lebt von seiner britischen Pension. Im Jahr 2000 wurde er von Queen Elisabeth II mit dem „Member of the Order (MBE) for social community work“ in Rumänien geehrt. Casa Ioana ist sein Lebenswerk und man kann hoffen, dass er der Organisation und vor allem den Menschen noch lange erhalten bleibt.