Patient rumänisches Schulsystem: Diskutable Diagnosen, zweifelhafte Kuren

Subjektive Betrachtungen anhand von drei mehr oder weniger willkürlich gewählten, aber leider nicht untypischen Beispielen

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I. Bakkalaureat 2011

Die Ergebnisse der diesjährigen Prüfungen waren über Wochen eines der wichtigsten Medienthemen in Rumänien. Sie waren viel schlechter als in den vergangen Jahren, es gab ganze Schulen, von denen kein einziger Absolvent das Ziel erreicht hat – das alles, weil weniger geschummelt wurde, was natürlich positiv zu werten ist.

Als Folge davon gab es kaum einen Journalisten und schon gar keinen Vertreter des Ministeriums, der nicht genau wusste, was Lehrer und Schüler alles falsch gemacht haben. Erstere sind schlecht vorbereitet und faul, was natürlich immer wieder mal zutrifft; letztere sind desinteressiert und nehmen selten am Unterricht teil, was fallweise auch stimmt.

Die Erkenntnis aber, dass Tausende von Lehrern und Schülern vor eine objektiv unlösbare Aufgabe gestellt werden, weil das System gravierende Mängel aufweist, die muss man mit der Lupe im Meinungsbild aller Empörten suchen. In diesem Kontext sollte man bei Wikipedia folgende Information beachten: „Etwa 19 Prozent aller Schüler der Schweiz machen Abitur.

Betriebliche Berufslehre und staatliche Berufsschule sind eng verzahnt (duales Bildungssystem)“. Also: Den höchstbezahlten Schweizer Lehrern gelingt es, in bestausgestatteten Schulen in einem Land mit einem äußerst dichtmaschigen sozialen Netz knapp 20 Prozent der Jugendlichen auf ein anspruchsvolles Abitur vorzubereiten. In Rumänien, wo all das nicht zutrifft, sollen etwa 80 Prozent einer Generation aus Mangel an Alternativen auf diese Höhe gestemmt werden.

Es sollen also Inhalte vermittelt und Kompetenzen entwickelt werden, die mit den realen Begabungen vieler Schüler rein gar nichts zu tun haben. Wie viel Interesse können dabei Schüler am Unterricht haben, der sie chronisch überfordert, weil er das Falsche bietet? Ich bin überzeugt, dass es sich nicht nur um verlorene Jahre der jungen Leute handelt, sondern dass dabei eine regelrechte „Erziehung“ zum Nichtstun stattfindet – durch unmögliche Erfüllung des natürlichen Bedürfnisses, sich über verdiente Erfolge in der Schule zu freuen.

Die von den Verbänden ausländischer Investoren auf höchster politischer Ebene seit Jahren geforderte Einführung einer effizienten, am Arbeitsmarkt orientierten Berufsausbildung scheint man immer noch nicht ins Auge zu fassen. Wenn man sich vornehmen würde, nur noch 50-60 Prozent einer Schülergeneration eine Ausbildung besuchen zu lassen, die zum Abitur führt, könnte man trotzdem das angeblich europaweit angepeilte Ziel, dass 40 Prozent der 30-34-jährigen Menschen einen Universitätsabschluss haben (Cabinet secretar de stat, „Foaie de parcurs pentru anul şcolar 2011-2012“), ohne Weiteres erreichen.

Wenn man die EU-Ziele in deutscher Sprache durchliest, lautet das wie folgt: „Der Anteil der 30- bis 34-Jährigen mit tertiärem oder vergleichbarem Abschluss soll auf mindestens 40 Prozent erhöht werden“ (www.eu-bildungspolitik.de). Zum tertiären Bereich zählen in Deutschland außer den Hochschulen noch „Berufsakademien und Fachschulen bzw. Fachakademien, die außerhalb des Hochschulbereichs liegen.

Bei den Berufsakademien findet die Hälfte der Studienzeit im Unternehmen statt. An der Fachschule können spezielle Fortbildungen, die etwa zum Techniker oder Meister führen, besucht werden“ (www.wikipedia.org). Schlussfolgerung: Entweder die Ziele unseres Unterrichtswesens beruhen teilweise auf Übersetzungsfehlern, oder man ignoriert bewusst den Bereich, der in Rumänien völlig fehlt und der scheinbar auch nicht vorgesehen ist: die praxisbezogene Ausbildung in Fachschulen.

II. „Schulautonomie“ bei der Stellenbesetzung

In Artikel 3 des im Januar 2011 in Kraft getretenen neuen Unterrichtsgesetzes („Legea educaţiei naţionale”) heißt es: „Die Prinzipien, welche das voruniversitäre und universitäre Lehrwesen in Rumänien leiten, sind (...) e. Das Prinzip der Deszentralisierung, auf Grund dessen die wichtigen Entscheidungen von den direkt Beteiligten getroffen werden” und bei Art. 96 (7)f „Der Leitungsrat genehmigt die Stundenaufteilung der Lehrer („planul de încadrare”).

Soweit die Gesetzestheorie, nun zum Konkreten: Der deutschsprachige Musiklehrer der Brukenthalschule muss erkennen, dass er als Familienvater nicht wie bisher weiter machen kann (746 Lei pro Monat aufs Konto, das sind weniger als 180 Euro). Er sucht sich einen neuen Job und beginnt mit der Ausbildung zum Zahntechniker.

Daraufhin versucht der Schulleiter, rumtelefonierend das Problem zu lösen und nach einer Woche glaubt er, am Ziel zu sein: Eine Absolventin des Brukenthallyzeums, die ihr dreijähriges Musikstudium abgeschlossen hat, ist bereit, zwischen Klausenburg/Cluj (Masterstudium), Schäßburg/Sighişoara (Wohnsitz der Eltern) und Hermannstadt (Unterricht) zu pendeln. Für die 12,5 Wochenstunden (ja, seit Frau Minister Ecaterina Andronescu gibt es auch Fächer, für die eine halbe Stunde pro Woche vorgesehen ist!) soll die neue Musiklehrerin 512 Lei (weniger als 120 Euro) pro Monat erhalten.

Problem gelöst? Mitnichten! Man muss „korrekt” agieren. Es gilt, obwohl es sich ja nicht um eine ganze Norm handelt, die „Anleitung betreffend der Besetzung der Lehrstellen, welche während des Schuljahres frei werden” (Nr. 5/22.09.2011 – „Instrucţiune privind ocuparea posturilor didactice/catedrelor care se vacanteazî pe parcursul anului şcolar 2011-2012”) aus dem „Kabinett” des Herrn Minister Daniel Petru Funeriu zu berücksichtigen. Demzufolge sind die Leitungsräte der Schulen „ermächtigt, Wettbewerbe für die zeitlich begrenzte Besetzung von Stellen (concursuri de suplinire) ... gemäß den vorliegenden Anleitungen zu organisieren”. Was zu tun ist?

1. Der Leitungsrat bestimmt die Kommission für die Organisierung des Wettbewerbs zur Stellenbesetzung durch Verfügung des Schulleiters bestehend aus: Präsident (Schulleiter), Mitgliedern (Lehrer mit unbefristetem Arbeitsvertrag - „titulari”, in der Regel mit Lehramtsstufe I oder II), Vertreter des Schulinspektorats.

2. Der Leitungsrat bestimmt die Kommission für Erarbeitung der Wettbewerbsthemen und des Evaluationsschlüssels bestehend aus: Präsident (stellvertretender Schulleiter), zwei Lehrern und einen Sekretären (Lehrer).

3. Kommission für die Korrektur der schriftlichen Arbeiten: Präsident, zwei Mitglieder, Sekretär.

4. Kommission für die Lösung der Beanstandungen mit Präsidenten, 2 Fachlehrern, Sekretär.

Vorausgesetzt, dass in der gegebenen Situation keine „praktische Probe“ nötig ist, entfällt die Gründung der 5. Kommission, dafür müsste aber ein Deutschtest organisiert werden – auch wenn man die junge Lehrkraft aus ihrer Schulzeit kennt und weiß, dass sie Deutsch-Muttersprachlerin ist. Das heißt, außer den beiden Schulleitern müssen sich nur noch acht Fachlehrer („titulari, cu grad I sau II“), davon sechs für Musik, mit dem Fall beschäftigen, dazu noch ein Vertreter des Schulinspektorats, vier Lehrer-Sekretäre, zwei Deutschtester und zwei Aufsichtslehrer, also insgesamt 19 Personen.

Die beschriebene – natürlich selbst bei Riesenarbeitsaufwand und massivem Stundenausfall kaum umsetzbare - „Anleitung“ verträgt keinen Kommentar. Ich hätte mir folgende Regelung vorstellen können: Der Direktor lädt die Bewerber (im beschriebenen Fall eine einzige, bedingt überzeugte Person) zum Gespräch ein, um dann zusammen mit dem Leiter der Fachgruppe sich eine Unterrichtsstunde anzusehen und sich eigenverantwortlich für einen Lehrer zu entscheiden.

III. Maßnahmen, um die Fehlzeiten der Schüler zu verringern

Im „Fahrplan“ für das Schuljahr 2011-2012 des Unterrichtsministeriums (Staatssekretärin Iulia Adriana Oana Badea) ist die Verbesserung der Anwesenheit der Schüler oberstes Ziel und das ist sicher gut so. Das unbegründete Fernbleiben vom Unterricht muss laufend „beobachtet, vorgebeugt und reduziert“ („monitorizat, prevenit, redus”) werden.

Interessante Stunden, genaue Evidenz der Fehlstunden, Zusammenarbeit mit den Eltern und den Schülervertretungen – das ist alles nötig, so wie in dem Dokument beschrieben. Monatlich muss jede Schule die Anzahl der Fehlstunden dem Inspektorat mitteilen, dieses dann dem Ministerium und angeblich gibt es schon Fortschritte. Hoffentlich! Ich kann aber nicht umhin, an den Spruch zu denken, den man anekdotisch Sir Winston Churchill in den Mund legt: „Ich glaube keiner Statistik, die ich nicht selbst gefälscht habe“.

Und dann kommt im angegebenen Dokument noch etwas: Für die Realisierung eines „nationalen Systems der Aufzeichnung, Beobachtung und Rapportierung der Fehlstunden beginnend mit dem Schuljahr 2011-2012 werden die Schulen ein elektronisches System der Erfassung der Anwesenheit für Schüler und Lehrer einführen („…unităţile de învăţământ pun în practică un sistem de pontaj la intrare/ieşire din instituţie. Sistemul este utilizat de către elevi şi personalul angajat...“). Das System wird die Aufzeichnung der Fehlstunden und Verspätungen sowie die Benachrichtigung in Echtzeit ermöglichen. Soweit, so gut. Trotzdem dazu folgende Fragen:

a. Entspricht dieser „Befehl“ (oder kann man die Maßnahme vom Ton her anders einordnen?) dem weiter oben angeführten „Prinzip der Deszentralisierung“ aus dem Unterrichtsgesetz?

b. Wer bezahlt das Ganze? Es scheint klar zu sein: Das Ministerium hat beschlossen, der Schulleiter verantwortet und die Kommunen müssten zahlen. Kann das Unterrichtsministerium die Bürgermeister/Stadträte zu dem Kauf einer bestimmten Schulausstattung zwingen?

c. Wie kann so ein „System“ gebaut sein, um an der Brukenthalschule innerhalb von etwa 10-15 Minuten (7.50-8.00 Uhr oder realitätsnäher 8.05 Uhr) über 400 Schüler und die entsprechenden Lehrer zu erfassen? Oder stehen dann Schüler und Lehrer Schlange, statt im Klassenraum zu arbeiten?

d. Wird durch die Einführung der Computerstatistik die Evidenz der Fehlstunden im Katalog abgeschafft, oder soll, wie üblich, alles gedoppelt werden?

e. Was passiert, wenn ich als Schüler oder Lehrer meine Zutrittskarte einem Kollegen zur Mitregistrierung gebe und mich dann Richtung Café verabschiede?

f. Was profitieren Eltern (ich schätze sie auf mindestens 50 Pozent der Gesamtzahl), die weder einen Computer haben, noch einen bedienen können, beziehungsweise damit einverstanden sind, dass die Kinder nicht zur Schule gehen (Gründe: Arbeit in der Wirtschaft, Umgehung von angesagten Kontrollarbeiten, private Vorbereitung usw.)?

Anstelle von Schlussfolgerungen

Weitere Beispiele, die sich für eine kritische Analyse anbieten würden, ließen sich sofort finden: Verpflichtende Einstufungstests nach Ministeriumsmuster, Umsetzung des Finanzierungskonzepts pro Schülerzahl und viele andere. Problematisch sind aus meiner Sicht nicht Konzepte, an die ich aufgrund meiner Erfahrung beim besten Willen nicht glauben kann, sondern die Überzeugung in Bukarest, dass die eigenen Rezepte für alle, noch so unterschiedliche Schulen (zum Beispiel: Erfolgsquote beim Bakkalaureat zwischen 0 und 100%) das Richtige sind und diesen sofort aufs Auge gedrückt werden müssen.

Einsicht, dass zumindest grundsätzlich Verantwortung, Entscheidungsgewalt und Verfügung über Finanzmittel konvergent und in Absprache laufen müssten – Fehlanzeige.

Trotz allem, es gibt sie noch in Rumänien – auch im deutschsprachigen Bereich: Die fachlich und methodisch kompetenten, engagierten, Neuem gegenüber aufgeschlossenen, computerkundigen und korrekten Lehrer, die hervorragende Arbeit leisten. Lehrer, die immer noch glauben, ihre konkrete Arbeit mit den Schülern sei das Wichtigste in diesem Beruf.

Gerade diesen Personen geht aber die Luft aus, weil sie jede Hoffnung aufgegeben haben, irgendwann akzeptabel bezahlt zu werden; weil sie im Vergleich zu den Faulpelzen und Selbstdarstellern im Kollegium die schlechteren Karten haben; weil sie in immer kürzeren Abständen mit angeblich wichtigen Papieraufträgen zugeschüttet werden, die ihrer Meinung nach niemals einem Schüler nützen; weil viele Eltern sich nicht um die Kinder kümmern oder lautstark absurde Forderungen stellen; weil … und weil …