Pinocchios Besuch

Letzte Woche hat mich Pinocchio besucht, wie damals, in meiner Kindheit. Er kam mit einem Billigflug aus Florenz nach Düsseldorf-Weeze, er kostete nur 58 Euro. Daher fehlte in diesem Flugzeug leider die Toilette, aus Spargründen, was Pinocchio freilich schnurzegal war, weil er ja nie musste, als Holzpuppe. Als Mensch hat man es aber in so einem Fall schon etwas schwerer.

Ich habe Pinocchio mit dem Auto in Weeze abgeholt und zu uns nach Hause gebracht, wo er sich im Gästezimmer, im vorderen Wohnbereich, einquartierte. In diesem Raum haben auch schon andere Freunde aus Italien gewohnt, zum Beispiel Francesco, genannt Checco, und seine Frau Cristina. Sie waren ziemlich laut. Wenn sie redeten, dann schrien sie eigentlich wie am Spieß, wie Italiener halt so sind. Meine Frau hat ein sehr feines Gehör und fürchtete manchmal, es würde durch Checcos und Cristinas Unterhaltungen schwer geschädigt werden. Bei Pinocchio war das nicht der Fall, sie nahm ihn praktisch überhaupt nicht wahr. Auch die Nachbarn nicht. Es war genauso wie in meiner Kindheit, als ich mit Pinocchio durch die Straßen von Reschitza lief. Nur ich konnte ihn sehen und sprechen, ich hatte sozusagen Pinocchio ausschließlich für mich.

Ich habe Pinocchio mein Arbeitszimmer gezeigt, und weil er keine Ahnung hatte, was dieses komische Ding war, das wie ein am Kamin liegender Kater schnurrte, erklärte ich ihm, dies sei ein PC, und ich brachte ihm sogar bei, wie man googelt. Das fand er absolut super, und als erstes hat er dann sich selbst gegoogelt. Er gab also das Wort Pinocchio bei Google ein und fand neunundzwanzigmillionenfünfhunderttausend Einträge unter seinem Namen.

„Wow!“, rief ich begeistert.
„Ist das viel?“, fragte er.
„Und ob! Millionen von Menschen auf der Google-Suche nach sich selbst wären superglücklich, wenn sie auch nur ein Hundertstel dieser Einträge erreichen würden. Du bist ein Megastar“, sagte ich. „Aber apropos Internet. Ich habe da eine ganz komische Geschichte über dich im Internet gelesen. Soll ich sie dir erzählen?“
„Nur zu, Geschichten finde ich toll. Und die über mich gefallen mir am allerbesten.“
„Okay, also hör zu, die Geschichte geht so:

Jesus geht durch die Wüste und trifft einen alten blinden Mann.Jesus: „Was machst du so alleine in der Wüste?“Alter Mann: „Ich suche meinen Sohn“Jesus: „Wie sieht er denn aus?“Alter Mann: „Er hat Nägel durch Hände und Füße.“
Jesus: „Vater!“Alter Mann: „Pinocchio!“ 

„Aha! Aber dieser alte, blinde Mann ist nicht mein Papa, der heißt Geppetto. Und wer ist denn dieser Jesus?“
Und bevor ich noch antworten konnte, gab Pinocchio das Wort Jesus bei Google ein und landete 888 Millionen Treffer.“
„Der hat ja noch mehr Einträge als ich! Er muss heilglücklich sein, wenn er sich googelt“, meinte er.
„Jetzt pass mal auf“, sagte ich. „Ich lese dir mein eigenes Gedicht vor.“

Und ich legte los:

„Vater unser, Herzensguter!
Hast du auch einen Computer?
Du bist groß, ich bin ein Schatten,
hättest du mal Zeit zum Chatten?
Gott, zum Heile meiner Seel’,
gib mir ’n Zeichen! Schick ’ne Mail!“

„Na“, fragte ich stolz, „hat es dir gefallen?“
„Ja“, sagte er.

Da begann seine Nase zu wachsen.
„Du lügst offensichtlich“, sagte ich. „Sei bitte ehrlich.“
„Das Gedicht ist blöd.“

Da schrumpfte seine Nase auf Normalgröße.
„Sehr sehr blöd. Ich konnte überhaupt nichts damit anfangen“, betonte Pinocchio mit Nachdruck.
Da schrumpfte seine Nase weiter und weiter, bis sie gänzlich verschwand.
„Hilfee, meine Nase ist weg“, rief Pinocchio verzweifelt.
Nun ja, zu viel Ehrlichkeit kann gelegentlich auch schaden. Aber bei so viel Kritik gönnte ich ihm das einfach, ehrlich gesagt.