Plädoyer für den Frieden

Joachim Gauck: Die großen Herausforderungen unserer Zeit sind nur gemeinsam lösbar

Bundespräsident Joachim Gauck hält seine Europarede auf Einladung von Andrei Pleşu (links), Präsident des New Europe College, am 21. Juni in der Bukarester Nationalbibliothek
Foto: die Verfasserin

„Der Frieden in Europa ist keine Selbstverständlichkeit. Weder ist er von selber entstanden, noch wird er von selber erhalten bleiben.“ Die Mahnung des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck, der zum Anlass seines Staatsbesuches in Rumänien auf Einladung des New Europe College am 21. Juni in der Bukarester Nationalbibliothek eine flammende Rede mit dem Titel „Europa: Leidenschaft für die Vernunft“ hielt, ist deutlich und unmissverständlich. Ein Blick zurück in unsere europäische Geschichte: Nationalsozialismus, der Eiserne Vorhang, Kommunismus. Ein Blick ringsum auf die Probleme von heute: Terrorismus, Rechtsextremismus, Flüchtlingskrise. „Das gemeinsame Europa gibt es, damit das, was in Europa historisch am wenigsten selbstverständlich war, dauerhafte Wirklichkeit bleibt: der Frieden in Freiheit“, erinnert Gauck. Hinzu kommen andere Herausforderungen: „Wenn ich an die großen Themen unserer Zeit denke, Sicherheit, Klimaschutz oder nachhaltiges Wirtschaftswachstum, so ist es mir manchmal rätselhaft, wie manche glauben können, dass vitale Interessen unserer Gesellschaften durch die Europäische Union nicht wirkungsvoller geschützt und auch global vertreten werden können, als es je ein einzelnes Mitglied heute könnte.“

Vertrauenskrise in der EU

Der Zeitpunkt der Rede könnte nicht besser gewählt sein: zwei Tage vor dem Referendum in Großbritannien, zwei Tage zittern vor einem möglichen Brexit. Europa befindet sich in einer Krise, die an seinen Grundfesten rüttelt. Es begann mit der schweren Finanz- und Wirtschaftskrise, gefolgt vom Völkerrechtsbruch „in unmittelbarer Nachbarschaft“, und seit dem vergangenen Sommer stellt die anhaltende Flüchtlingsbewegung die EU auf eine harte Zerreißprobe, analysiert der Vortragende. All diese inneren Krisen haben eine weitere generiert: die Vertrauenskrise. „Gerade manche der neuen Mitglieder scheinen sich zu fragen, wie und wann das Wohlstandsversprechen der Union eingelöst werden kann.“
Besorgt zeigt sich Gauck über Kräfte, die ihre Aufgabe darin sehen, Angst zu schüren und Sorgen erst herbeizureden. Aber auch über einen „seltsamen und hochgefährlichen Ansturm negativer Affekte“ in einzelnen Gesellschaften sowie in der gesamten Union. Politiker hätten es vielfach versäumt, auch die breite Masse in den Dialog einzubinden und auf diesen Weg mitzunehmen, bekennt er später in der Fragerunde.

Es fehlte ein „gutwilliges, gutwollendes Erklären“, der Abwehreffekt gegen das Undurchschaubare wurde unterschätzt! Die logische Konsequenz: Trotz und Aggression, Desinteresse, ein Rückzug in geschlossene, vertraute Überzeugungsmilieus, populistische Bewegungen. „Da kann ich Rumänien nur gratulieren, dass hier keine nennenswerte solche Bewegung existiert. Wir in Deutschland sind da schon weiter zurückgeworfen...“, bekennt der Bundespräsident. Kanzlerin Angela Merkel werde oft kritisiert, nur den nächsten kleinen Schritt zu planen, nach dem Motto: Sie fährt auf Sicht – wo bleibt ihre Vision? „Doch Visionen sind unübersichtlich und schüren daher Urängste“, rechtfertigt er ihre Strategie.
„In einer scheinbar unübersichtlich gewordenen Welt sehen nicht wenige den wesentlichen Grund für (...) chaotische und von den lokalen, regionalen oder nationalen Gesellschaften nicht mehr beeinflussbare Zustände in der EU und ihren Institutionen und Regeln“, so Gauck. Es geht gegen „die da oben“ und gegen „die da draußen“ vor einem Selbstbild als Opfer böser Verschwörer. Oder um trotzige Abwehr gegen jedes Fremd- und Anderssein vor dem Hintergrund falsch verstandenen Patriotismus. Und jeder fühlt sich im Recht – wie in Juli Zeh‘s jüngstem Roman, wo es heißt, „dass jeder Mensch ein eigenes Universum bewohnt, in dem er von morgens bis abends recht hat.“

Urängste politisch ausgeschlachtet

Als Ursache der Krise sieht Gauck daher nicht – wie oft zu hören – unterschiedliche Ansichten über politische Sachfragen, etwa die gerechte Verteilung von Pflichten und Rechten innerhalb der EU, sondern in emotional hoch aufgeladenen Moralvorstellungen und Fragen des Lebensstils! Ob zum Umgang mit Flüchtlingen oder zum Verhältnis zwischen dem säkularen und dem religiösen Europa, zu sexueller Selbstbestimmung, Grenzen der Reproduktionsmedizin oder Sterbehilfe, zum Umgang mit Verschuldung und Arbeitslosigkeit – stets wird die Meinung zu dem eigentlichen Thema von starken, oft polarisierende Emotionen begleitet. Vor allem zwei Urängste sind politisch nutzbar: Entgrenzung und Fremdheit. Was uns fehlt, ist „mehr Leidenschaft für die Vernunft“, plädiert Gauck.
Wem verdanken wir in Europa das meiste Gute und Konstruktive in Vergangenheit und Gegenwart? Dem Geist der Rationalität, der Sinnsuche, der Vorherrschaft des Rechts, der Vertiefung des Wissens durch Beschäftigung mit fremden Gedanken und anderen Kulturen, der sachlichen Auseinandersetzung durch Rede und Kritik, Theorie und Beweisführung, der Aufklärung und – der Vernunft! „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen“, zitiert er Kant.

Zwei Grundvoraussetzungen hierfür: die Freiheit des Denkens, des Wortes, der Veröffentlichung – und die Selbstverpflichtung zur Suche nach der Wahrheit. „Wir müssen wieder lernen, an die intellektuelle und moralische Tradition des intellektuellen Disputs anzuknüpfen, die die europäische Kultur mitbegründet hat, verweist Gauck auf die ersten Universitäten in Bologna, Paris oder Oxford, „die den europäischen Geist von Rationalität und Aufklärung trotz brutaler Rückschläge nie ganz zum Verschwinden bringen konnten.“
So gut und richtig es sei, das Eigene zu schätzen und zu schützen – die Geborgenheit der Heimat, das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft, das erst Gefühle wie Stolz, Ehre und Liebe ermöglicht – dürfen wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen, was wir in den zurückliegenden Jahren gemeinsam erreicht haben, mahnt der deutsche Bundespräsident. Niemand müsse seine Nationalität, seine Religion oder andere ein Leben lang gehegte Identitätsmerkmale auf dem Altar der EU opfern, erklärt er. Doch „wie absurd und zerstörerisch wäre es, wenn die eine große Grenze durch Europa, die wir vor einem Vierteljahrhundert gemeinsam glücklich überwunden haben, nun durch viele neue Grenzen abgelöst würde. Darauf wird kein Segen liegen.“

Eine gemeinsame Wertegemeinschaft

Kann es dennoch gemeinsame Ideale in einem vielseitigen Europa voller kontrovers betrachteter Freiheiten geben? Gauck setzt ohne Zweifel trotzdem auf eine Wertegemeinschaft: Unverrückbare Grundlagen seien die Menschenrechte, die Meinungs- und Religionsfreiheit, die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Er erinnert an die Berliner Erklärung zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, die mit den Worten beginnt: „Europa war über Jahrhunderte eine Idee, eine Hoffnung auf Frieden und Verständigung. Diese Hoffnung hat sich erfüllt.“ Und mit Blick auf die Zukunft heißt es: „Unsere Geschichte mahnt uns, dieses Glück für künftige Generationen zu schützen.“ Leidenschaftlich vernunftorientiert und konfliktfähig sollen wir sein, fordert Gauck; wie die Kommilitonen an den Universitäten des 12. Jahrhunderts – oder „lieber sogar etwas mehr, damit jeder in dem großen, schönen Europa nicht mehr nur sein eigenes, kleines Universum bewohnt, in dem er von morgens bis abends recht hat.“