Rumänische Armutszeugnisse

Evolution und Aspekte der Armut in Rumänien im (unvollständigen) Spiegel der Statistik

Symbolfoto: sxc.hu

Dass für die Medien die schlechten Nachrichten immer noch die guten sind, zeigte sich vor Kurzem wieder, als die Meldung des Europäischen Statistikamtes Eurostat die Runde machte, Rumänien stehe am unteren Ende der Armutsskala in der EU. Dass Eurostat neben dem Bruttoinlandsprodukt diesmal auch den Konsumindex AIC (=Actual Individual Consum) als Kriterium des Rankings heranzieht, macht den Vergleich nur objektiver, relativiert ihn aber keinesfalls. Anders gesagt: nicht nur im Konsum von Nahrung und Kleidung, sondern auch bei staatlichen Dienstleistungen  - in erster Linie Unterricht und medizinische Betreuung - liegt Rumänien am Ende der Tabelle(n).

Das kann man aber auch im kollektiven Bewusstsein innerhalb Rumäniens ablesen (in dem keiner an einer Aussage der Art zweifelt: „Die Moldau ist das ärmste Gebiet Rumäniens“), an der Selbsteinschätzung der Bürger Rumäniens (wenn sie nicht gerade nationalistische Anfälle haben), aber auch an anderen Indizien, bis hin zum politischen Handeln (ob man es zugibt oder nicht: Die Zahlen belegen, dass unter den letzten Regierungen das meiste Haushaltsgeld in die als arm eingestuften Regionen gepumpt wurde – was auch immer der Beweggrund dazu gewesen sein mag...).

Viele „relativ Arme“

Über die Ostregion Rumäniens, die Moldau, ist bekannt, dass mehr als ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung unterhalb jener Schwelle lebt, die soziologisch als Grenze zur „relativen Armut“ betrachtet wird – mit einem Monatseinkommen um die 100 Euro. Hingegen fallen meist außerhalb des Blickfelds jene Regionen, wo die Armut im Vormarsch ist. Deshalb ist ein Vergleich der Entwicklungstendenzen zwischen 2007 (dem Jahr vor faktischem Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise) und 2011 (dem konventionell angenommenen Ende dieser Krise) ziemlich aufschlussreich. Betrachtet wird in dieser Zeitspanne die Entwicklung des Bevölkerungsbestands über 18 Jahre, der mit einem Monatseinkommen um die 100 Euro auszukommen gezwungen war. In der Nordostregion waren das 2007 36,5 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Im selben Jahr waren es im Partium und der Nordwestregion 21,3 Prozent, in Siebenbürgen/Zentrum 17,8 Prozent, im Südosten/Dobrudscha 29,3 Prozent, in Muntenien 26,6 Prozent und in Bukarest 7,3 Prozent.

2009 bis 2010 waren von diesem Standpunkt die besten Jahre (pikanterweise in einer Zeit, als selbst Staatschef Băsescu und Regierungschef Emil Boc endlich zugaben, dass Rumänien eine Krise erlebt, nachdem sie bis im letzten Augenblick, als ganz Europa bereits darunter stöhnte und eifrig an Gegenmaßnahmen bastelte, deren Existenz mit Vehemenz verneint hatten). In der Nordostregion lag die Zahl der Armen (nach obigem Kriterium) bei 29,5 Prozent, in der Nordwestregion/Partium bei 14,6 Prozent, in Siebenbürgen bei 19,4 Prozent (!! – die einzige Region mit einem Armenzuwachs in dieser Zeitspanne), in der Dobrudscha bei 22,5 Prozent, in der Walachei bei 22,2 Prozent und in Bukarest bei 3,1 Prozent. Im letzten vom Nationalen Statistikinstitut Rumäniens (INS) erfassten Jahr, 2011, lag der Prozentsatz der Armen in der Moldau bei 32,4 Prozent, im Partium bei 20 Prozent, in der Region Zentralrumänien bei 18 Prozent, in der Dobrudscha bei 28 Prozent, in der Walachei bei 21,6 Prozent und in Bukarest bei 3,4 Prozent. Zwischen 2010-2011 ist die so definierte Armut in der Moldau, im Partium, in der Dobrudscha und in Bukarest gestiegen, in Siebenbürgen und der Walachei gesunken. Hingegen hat sich die Lage in allen Regionen außer Siebenbürgen gegenüber 2007 verbessert.

Indikator Sozialkantinennutzer

In etwa kann man die Zahl der Armen eines Landes auch nach der Zahl der Inanspruchnehmer der Dienstleistungen von Sozialkantinen abschätzen. Zugegeben, das ist zwar kein konsekriertes makroökonomisches Kriterium, aber gerade auf der Ebene des kleinen Mannes aufschlussreich, auf den es ja angeblich in der Politik ankommt. Dazu gibt es Angaben bei INS, die ziemlich genau und aktuell sind – im Rahmen dessen, was man in der EU-Statistik so als „aktuell“ bezeichnen kann. Geht man nämlich davon aus, dass 2001 (zur Erinnerung: Im ersten Jahr der PSD-Regierung von Adrian Năstase) in den Sozialkantinen Rumäniens täglich 40.000 Menschen ihre warmen Mahlzeiten eingenommen haben und vergleicht man demgegenüber, dass es 2010 täglich 18.466 Menschen waren, dann müsste man von einer „Verringerung der Armut“ sprechen. Nur macht man es sich mit den Statistiken auf diese Weise zu einfach, weil andere Statistiken – siehe oben – dazwischenfunken.

Denn wenn Bukarest tatsächlich der Raum mit den wenigsten Armen wäre – wie die Statistik von weiter oben es uns glauben macht – warum hat dann Bukarest die meisten Nutzer von Sozialkantinen? Doch nicht ausschließlich als größter Ballungsraum Rumäniens. Obwohl die nackten Zahlen der Sozialkantinennutzer eines Verwaltungskreises glatt die Einwohnerzahl des Verwaltungsgebiets ignorieren. Der Zehnjahresdurchschnitt der Bukarester, welche die Dienstleistungen von Sozialkantinen in Anspruch nahmen, liegt bei 2805 Personen. Täglich. Aber: Ihre Zahl ist in diesem Zeitabschnitt um 40 Prozent zurückgegangen, denn in den ersten fünf Jahren des Betrachtungszeitraums lag sie bei 4552 Personen täglich. Die Höchstzahl an täglichen Nutzern der Dienstleistungen der Sozialkantinen hatte Bukarest 2004: 6821 Personen. Auf Bukarest folgt Konstanza mit täglich 1453 Nutzern der Sozialkantinen im Jahr 2010. Hier stieg deren Zahl nahezu stetig, von 1015 im Jahr 2001, mit einem Zwischentief von 493 Personen (2002). Am Ende der Liste stehen im Jahr 2010 Dolj (80 Nutzer), Giurgiu (85), Bistritz-Nassod/Bistriţa-Năsăud (91) und Ilfov (100). 2010 meldete der Verwaltungskreis Klausenburg dem Statistikinstitut INS 1040 tägliche Nutzer von Sozialkantinen, Hunedoara 904, Temesch 520, Kronstadt 442, Arad 340, Karasch-Severin 293, Hermannstadt 246, Alba 201, Sathmar 190.

In 31 Verwaltungskreisen ist die Zahl der Inanspruchnehmer von Sozialkantinen in der zehnjährigen Zeitspanne der INS-Betrachtung gesunken, in neun ist sie gestiegen. Von zwei Verwaltungskreisen  - Argeş und Brăila – fehlen regelmäßige Angaben, die Tendenzen aufdecken könnten. Das spürbarste Sinken der Zahl der Nutzer von Sozialkantinen gab es in Bistritz-Nassod (2001: 767 Personen, 2010: 91 Personen), in Jassy/Iaşi (2001: 1620 Personen, 2010: 193 Personen), in Călăraşi (2001: 2190 Personen, 2010: 368 Personen) und in Giurgiu (488 Personen in 2001, 85 in 2010). Den drastischsten Anstieg der Zahl der Nutzer von Sozialkantinen gab es im Verwaltungskreis Mureş (2001: 111 Personen, 2010: 330) und in Ialomiţa (von 61 auf 131 Personen). Inwiefern die zwischenzeitlich geänderten Nutzungsvoraussetzungen für Sozialkantinen diese Zahlen beeinflusst haben, darüber schweigt die Statistik.

Haushaltsspritzen in arme Gegenden

Von Interesse für unsere Betrachtung dürfte auch die Reaktion der Politik mittels Handhabung des Budgets auf die Armutsentwicklung in Rumänien sein. Schlussfolgerungen daraus kann man nur indirekt ziehen, indem man aufmerksam die Evolution der Haushaltszuwendungen für die Verwaltungskreise mit einem hohen Anteil von Armen betrachtet – obwohl Armutsbekämpfung weder Hauptziel noch Zweck der Haushaltszuwendungen sein sollte, aber immerhin Tendenzen offenbaren kann. Wie in jedem echten zentralistischen Staat wird das Steueraufkommen erst mal zentralisiert gehortet und dann als Haushaltszuwendung umverteilt und gestreut. Hier sollen nicht die Streuungskriterien des Haushalts Gegenstand der Betrachtung sein, sondern einfach die Evolution der Zuwendungen innerhalb der zehn Jahre 2001-2010. So gesehen hat der Verwaltungskreis Ilfov seit 2000 den schnellsten Anstieg (von 50,3 Millionen Lei auf 1,03 Milliarden) von Haushaltszuwendungen erlebt (die Statistik geht wieder nur bis zum Jahr 2010, also in die vollste der Zeit der PDL-Boc-Regierung – ein Schelm, wer an eine politische Couleur der Haushaltszuwendungen denkt!). Auf Rang zwei folgt Suceava (damals unter PDL-Vizechef Gheorghe Flutur, von 71,2 Millionen Lei auf 1,28 Milliarden...). Darauf folgen dann vier der ärmsten Verwaltungskreise Rumäniens, Sălaj, Tulcea, Vaslui und Giurgiu. Ganz am Ende der Tabelle folgen in der Anstiegsstatistik der Haushaltszuwendungen Galatz/Galaţi und Bukarest.

Am einfachsten ist es, diesen Anstieg mittels des Multiplizierungsfaktors zu verfolgen, den die Haushaltszuwendungen erlebt haben. So stieg der Haushalt von Ilfov zwischen 2001 und 2010 um das 20,5-fache an, jener von Suceava um das 18-fache, der von Tulcea um das 16,8-fache und der von Vaslui um das 16,4-fache. Die Verwaltungskreise Giurgiu und Hermannstadt/Sibiu folgen mit einem Anstieg der Zuwendungen aus Bukarest um das 15,9-fache, Neamţ mit dem 15,8-fachen, Harghita und Mehedinţi mit dem 15,6-fachen. Sathmar verzeichnete einen 15,4-fachen Anstieg seiner Haushaltszuwendungen, Mureş um das 15,3-fache, Arad um das 15,1-fache und Alba um das 15-fache. Nicht allzu schlecht stehen in dieser Hinsicht auch die Banater Verwaltungskreise: Temesch hatte einen Zuwendungsanstieg aus Bukarest um das 13,8-fache. Karasch-Severin um das 13,7-fache. Zum Vergleich: Bukarest sind zwischen 2001 und 2010 um 10,3 mal mehr Haushaltsmittel zugedacht worden, Galatz 10,7 mal mehr, Călăraşi und Brăila 12,1 mal mehr und Teleorman 12,2 mal mehr.

Dass da die absoluten Ziffern ganz anders ausschauen und eine andere Hierarchie hergeben, leuchtet wohl jedem ein, wenn man allein das „Schlusslicht“ Bukarest betrachtet, dessen Haushaltszuwendungen von 717,3 Millionen Lei (2001) auf 7391,5 Millionen (2010) hochgefahren wurden – womit es haushoch auf Rang eins unter den Haushaltsempfängern steht, gefolgt von Prahova - von 119,8 auf 1535,9 Millionen, Klausenburg - von 112,2 auf 1505,5 Millionen oder Temesch - von 107,3 auf 1482,6 Millionen Lei.
Wenn man diese Zahlen durch das Prisma der Ergebnisse der neuesten Bevölkerungszählung betrachtet, klärt sich einem einiges hinsichtlich der Abstufungen. Feinheiten der Hierarchie der Haushaltsempfänger müssen dann durch politische und Seilschaftsfilter geklärt werden. Mit der Armutsbekämpfung haben sie nur noch herzlich wenig zu tun.