Schubladen

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Von Geburt bis zum Tod tragen wir Etiketten. Schon mit dem Vornamen fängt es an: Völlig willkürlich wird er einem zugeteilt – hat uns einer je gefragt, ob wir ein ganzes Leben lang damit herumlaufen wollen? Ausgerechnet dieser – persönlichste! – Teil unserer Datenlandschaft sagt rein gar nichts über uns aus. Noch nicht mal zu Herkunft oder Familienzugehörigkeit, wie der Nachname. Dann höchstens zum Geschmack der Eltern oder zum vorherrschenden Modetrend. Der wird einem gnadenlos aufgedrückt: „Du bist ab jetzt und für immer der Hans.“ Erst mit dem Zettel am großen Zeh geht es mit dem Hans zu Ende. Oder nicht ganz, denn selbst auf den Grabstein verfolgen uns Etiketten. Fleisch und Gebeine vergehen, das Etikett aus ewigem Stein bleibt stehen. Verloren, gestrichen aus der kollektiven Erinnerung stattdessen, wer „der Hans“ wirklich war: Ein sanfter Familienvater? Ein Rabauke und Tunichtgut? Konnte er singen, malen oder dichten? Modellflugzeuge basteln oder asiatisch kochen? Hat er sich beruflich hervorgetan – oder jemals ein Leben gerettet? Hat er sich selbst unter seinem Etikett „Hans“ überhaupt wiedererkannt?

Ähnlich ist es mit Vorstellungsrunden auf irgendwelchen Seminaren. Was wir da von uns vermitteln! „Verheiratet, drei Kinder, Abteilungsleiter...“. Oder „45 Jahre alt, in Hinterpfuideifi geboren.“ Das ist wie: „Zweite Schublade links oben – brauchst sie aber gar nicht aufzumachen, ist sowieso nichts drin.“ Warum teilen wir anderen nicht mit, was uns wirklich definiert? Was uns verbinden oder trennen könnte? Was Türen zu Gemeinsamkeiten öffnet und uns an solchen zu Konflikten lieber sanft vorbeischleust. Wie wär’s mit: „umweltbewusst“, „reisefreudig“, „spirituell“ oder „tierlieb“? Oder „Kulturliebhaber“, „Hobbygärtner“, „Dichter“ und „Trekking-Fan“?
Nicht immer sind nichtssagende Etiketten auch harmlos. Denken Sie mal an „vorbestraft“, „Schulabbrecher“, „in der Entwicklung zurückgeblieben“. Auch sowas wird man ein Leben lang nicht mehr los. Es gibt keinen Reset-Knopf, nach dessen Betätigung man sich neu erfinden könnte. Auch wenn man es vielleicht könnte, oder längst getan hat – der Zettel mit der alten Aufschrift bleibt in der Datensammlung erhalten.

Oft drücken wir uns sogar selbst einschränkende Stempel auf, zum Beispiel, indem wir um unsere angeblichen Rechte kämpfen: als Frau, als Mitglied der Roma-Ethnie, als Homosexueller. Muss es andere wirklich interessieren, was erwachsene Menschen hinter den verschlossenen Türen ihres Schlafzimmers tun? Muss man wirklich darauf bestehen, dass der „liebe Leser“ und die „liebe Leserin“ separat angesprochen werden? Warum dann nicht korrekterweise „liebe(r) dicke(r), dünne(r), große(r), kleine(r), alte(r), junge(r), weiße(r), schwarze(r), dumme(r), intelligente(r), gesunde(r) und kranke(r) Leser(in)“, um nur ja niemanden zu diskriminieren? Tatsächlich ist es das unterscheidende Etikett, das Diskriminierung erst zulässt!
Freilich geht es in der heutigen Gesellschaft nicht mehr ohne identifizierende Daten. Für 7,2 Milliarden Erdlinge muss es schließlich eine Buchhaltung geben: Eingang, Ausgang. Vor wem soll man sich hüten? Wessen Bewegungsfreiheit einschränken? Wem den Zugang zum Futternapf verweigern? Und wer bekommt die Reste? Weh dem, der nicht die richtige Geburtsurkunde vorweisen kann, die Eintrittskarte in die verschiedenen Spielebenen dieser virtuellen Datenwelt. Information ist eben alles! Tatsächlich aber verschleiern Etiketten mehr, als sie preisgeben. Nicht nur, dass „dritte Schublade rechts oben“ vielen schon genug über einen sagt. Wir können uns auch selbst prima dahinter verstecken. Manchmal sogar vor eigenen Fragen: Wer in Dreiteufelsnamen bin ich eigentlich?