Schwester Vroni, Doktor Paul

Zwei ehemalige Straßenhunde aus dem Balkan als „Therapeuten“ im Klinikum Wartenberg

Ergotherapeutinnen Lisa Steinbichler und Ella Schaller nähern sich der bettlägerigen Patientin hoffnungsvoll mit Vroni...

Palliativhund Vroni darf mit ins Bett.

Patientenkärtchen zum Behalten, mit lieben Grüßen

„Therapeut“ Paul war einst Straßenhund in Bukarest.

Hundeführerin Gitta Brandhuber mit ihrem Schützling

Stofftiere, Tüten und Stachelbälle: Pauls Utensilien für die Gruppentherapie
Fotos: die Verfasserin

„Die Vroni weiß genau, wo’s lang geht, sie läuft schon ganz von alleine auf die Palliativstation”, erzählt Lisa Steinbichler, während sie die rosa Sternendecke auf dem Bauch der Patientin ausbreitet. „Sie darf doch zu Ihnen ins Bett - oder?” Die 72-jährige Gehirntumorpatientin lässt es eher teilnahmslos zu. Erst als das schwarz-braun-weiße Fellbündel in ihre Sichtweite gerät, weitet sie überrascht die Augen. Heftet den Blick an das kleine Wesen, das mit rauer Zunge sanft Pastete von ihrem Finger schleckt. Ein Anflug von Zärtlichkeit schleicht sich ihre sonst so verschlossenen Züge. Von nun an folgen ihre Augen jeder Bewegung, auch als der Hund nach seinem „Einsatz” längst wieder frei auf dem Boden herumschnuppert. Ein unsichtbarer Bann scheint gebrochen, zumindest für einen Augenblick.

Drei Stockwerke weiter unten, im Ergotherapie-Saal des Klinikums Wartenberg (Bayern), fordert Vronis „Kollege” Paul ein Grüppchen Senioren zu Geschicklichkeitsübungen heraus: Erst darf ihm Herr Müller ein Leckerli auf einer groben Schnur auffädeln, dann versteckt ihm „die Anni”, wie sie von den Therapeutinnen genannt wird, ein Stückchen Wurst in einer Tüte. „Fest zusammenknüllen” fordert die Frau im roten T-Shirt mit der Aufschrift „Hunde im Therapieeinsatz“. Wie Lisa Steinbichler kommt auch Gitta Brandhuber jede Woche mit dem Hund ins Klinikum. Anni bemüht sich sichtlich, es gelingt ihr zwar nur mäßig, zu schwach sind die Hände der demenzkranken Seniorin. Doch die allgemeine Freude ist groß, als der Rüde das Wienerle geschickt mit den Pfoten befreit. Anni wird unruhig, bedeutet, dass sie die Papierfetzen aufräumen will. Auch dies ist ein Fortschritt, denn ansonsten interessiert sich die Patientin kaum für das Geschehen um sich herum. „Sie war anfangs total in sich gekehrt, die Hände verkrampft, nicht therapierbar. Den ganzen Tag lang stierte sie nur vor sich hin”, beschreibt Steinbichler ihren Zustand. Die Therapie mit Paul lockt sie aus ihrer Schale. Als nächstes darf sie ihm ein Leckerli auffädeln – und es gelingt. „Mit dem Hund konntest du das doch auch“, wird sie die Therapeutin beim nächsten Mal ermutigen, wenn Anni ihre Hände gebrauchen soll.

Was Ärzte, Schwestern und Therapeuten oft vergeblich versuchen, schaffen Vroni und Paul: Demenzkranke oder Hirntumorpatienten aus ihrer Starre zu locken, sie zu motorischen Übungen zu motivieren und emotionell anzuregen.

Hunde statt Delfine

Dass Autisten und psychisch Auffällige gut auf Delfine reagieren, ist bekannt. Doch Delfintherapie kommt teuer, die Wartelisten sind lang. „Mit Hunden funktioniert es ganz ähnlich - und die Therapie ist bei uns kostenlos“, erklärt Lisa Steinbichler, die sich vor einem Jahr für den Einsatz von Therapiehunden im Klinikum Wartenberg stark gemacht hatte. Sie begann mit Paul, dem Hund ihrer Freundin, und die Erfolge der Gruppen-Ergotherapie ermutigten sie bald, einen zweiten Hund für die Palliativstation zu suchen: „So kam Vroni ins Spiel, denn der Paul mag sich nicht ins Bett legen. Die Mischlingshündin wurde wegen ihres sanften Wesens ausgewählt. Einen „Schein“ wie Paul, der mit Frauchen eine spezielle Ausbildung absolvierte, hat sie nicht. Doch ihr besonderes Einfühlungsvermögen zeigte sich, nachdem ihre Besitzerin, Gitta Brandhubers Tochter, ein Baby verloren hatte. Das Hündchen schmeichelte sich ein, forderte sanft Aufmerksamkeit und spielte eine wichtige Rolle bei der Trauerbewältigung. Vronis Talent besteht darin, zu spüren, was der Patient gerade braucht, erklärt Steinbichler. „Eigentlich ist sie sehr aufgeweckt, aber wenn sie merkt, dem Kranken geht es schlecht, legt sie sich zu ihm und schläft. „Obwohl augenscheinlich nicht viel passiert, sind sowohl Vroni als auch Paul fix und fertig nach ihrem Einsatz und schlafen erst mal nur. Deshalb beschränkt sich die Hundetherapie für jeden auf etwa eine Stunde pro Woche.

„Der Hund nimmt dem Patienten etwas“, findet Steinbichler und erzählt als Beispiel von der Frau mit den Atemaussetzern, die zwei Tage nachdem Vroni auf ihrer Brust geschlafen hatte, friedlich gestorben war. „In Kanada ist Hundetherapie sehr verbreitet“ fügt Gitta Brandhuber an. Ein befreundeter Arzt, der eine Schmerzklinik leitet, „beschäftigt“ dort bis zu 20 Hunde. Ohne Hunde muss man viel mehr Schmerzmittel spritzen, stellte dieser fest.

Aktiv sein und sich öffnen

Den Vierbeinern gelingt es, traurige oder verschlossene Seelen aufzuschließen, Emotionen freizusetzen. „Bei Menschen mit Hirntumor, oft total labil und kaum ansprechbar, hat man manchmal so einen Wow-Effekt!“ begeistert sich Lisa Steinbichler. Bei einer Patientin, die seit langem kein Wort mehr gesprochen hatte, gelang es Vroni, das Eis zu brechen. Als sie den Hund zum ersten Mal sah, entfuhr ihr: „Mei, ist der süß!“

In der Gruppentherapie kommt Stimmung auf, als Gitta Brandhuber einen Plüschhund aus der Tasche zieht. Die Übung für die Patienten besteht darin, den Reißverschluss am Bauch aufzuziehen, damit Paul ein Plüschbaby herausholen kann. Zur Belohnung bekommt er ein Stück Wurst. Den meisten gelingt es, nur Herr Müller macht sehr zögernd den Reißverschluss auf, holt dann das Baby selbst heraus und reicht es dem Hund. Ein spitzbübisches Lächeln huscht über sein sonst unbewegtes Gesicht. Die bayrische Hundeführerin lacht gutmütig und scherzt: „Jetzt deafan Sie die Wurscht essen - oder wia mach ma des?“ Es geht nicht darum, dass Mensch oder Hund die Kunststückchen perfekt durchführen, sondern dass die Patienten aktiv sind, sich öffnen, sich freuen.

Als nächstes kommt ein schlabbriges Etwas zum Vorschein: „Ein ausgeweidetes Einhorn“, scherzt Brandhuber über den unten offenen Fellsack, an dem Kopf und Beine baumeln. Das Tier wandert von Schoß zu Schoß, in seinem Bauch ist ein Leckerli versteckt, das Paul suchen soll. Wieder ist es Herr Müller, der die Hand selbst tief hineinsteckt, so dass Paul keinen Zugang findet. Er lacht, vergeblich stupst ihn die feuchte Hundeschnauze an. Dann holt er den Hundekuchen selbst heraus und gibt ihn Paul. Das Einhorn presst er fest an sich. „Ich hätts ihm ja gern geschenkt - aber des is scho so ogsabbert vom Paul“ amüsiert sich Gitta Brandhuber.

Vom Straßenköter zum Therapiehund

Nach der Gruppensitzung erzählt Gitta Brandhuber die Schicksale von Paul und Vroni. Beide wurden als ehemalige Straßenhunde von der Tierschutzorganisation „Animal Souls“ vermittelt. Paul kommt aus einem Tierheim in Rumänien. Als Welpe wurde er der Mutter frühzeitig entrissen und zum Betteln von Roma-Kindern in einer Schuhschachtel vorgezeigt. Schwer rachitisch und mit einer Flohstichallergie landete er in einem Bukarester Tierheim, wo er mit vier Monaten nach Deutschland vermittelt wurde. Gitta Brandhuber, Justizfachangestellte und zuerst 20 Jahre in der Jugendarbeit tätig, bis sie sich Tierschutzhunden widmete, päppelte den traumatisierten Mischlingsrüden auf. „Dann haben wir uns bei den Johannitern in Landshut ausbilden lassen.“ Brandhuber wird Hundeführerin - eine von mittlerweile 19 in Landshut. Der Kurs ist kostenlos, erzählt sie, und beginnt mit einem Eignungstest für den Hund. Anschließend wird hauptsächlich der Hundeführer ausgebildet, der seinen Schützling selbst nach Bedarf trainiert. Paul, damals drei Jahre alt, fiel durch den ersten Test. Ein viertel Jahr später zeigte er dann die nötige Reife. Gelehrt werden Kynologie, Verhaltensforschung, Pädagogik, Psychologie und Gerontologie. Nach der Prüfung zum Hundeführer folgen Einsätze unter Anleitung, ein Abschlusseinsatz und ein von Experten begleitetes Probejahr. Auch der Hund muss eine harte Prüfung bestehen: Wenn eine Gruppe lärmender Kinder oder ein paar große, schwarze Gestalten auf ihn zukommen, darf er weder Angst noch Aggression zeigen. Ausgebildete Therapiehunde werden anschließend in Krankenhäusern, Kindergärten oder im Umgang mit Behinderten eingesetzt.

Auch Vronis Schicksal begann auf der Straße: Tierschützer fanden das Hündchen in Griechenland, weggeworfen in einem Graben. Die Prüfung zum Therapiehund würde das schreckhafte Tier wohl nicht bestehen, meint Lisa Steinbichler. Doch als „Besuchshund“ hat sie sich die Herzen der Patienten längst erobert. Auf der Palliativstation rollt die Therapeutin die rosa Decke zusammen. Die Patientin verfolgt sie mit Blicken, wie sie mit Vroni den Raum verlässt. Zurück bleibt noch lange danach der liebevolle Ausdruck auf ihrem Gesicht...