Sehnsucht nach „Europolis“

Die stolze Hafen- und Handelsstadt Sulina war einst Zentrum kosmopolitischen Lebens

Blick vom Leuchtturm auf das verschlafene Städtchen

Einst Dreh- und Angelpunkt einer bunten, multiethnischen Gesellschaft – der Palast der Europäischen Donaukommission (CED).

Gotteshäuser aller Konfessionen – hier die orthodoxe Kirche zum Hl. Nicolae - prägen das Stadtbild.

Feiner weißer Sand bis zum Horizont

Der multiethnische Friedhof von Sulina: Pforte zum jüdischen Teil...

türkischer Grabstein mit Turban im türkischen Teil, ...

Leichenwagen
Fotos George Dumitriu

Wenn es ein UNESCO-Welterbe für intensive Momenteindrücke gäbe – Sulina wäre ein Kandidat dafür. Verfallende Gebäude mit gähnenden Fensterhöhlen, überwuchert von wildem Wein, erinnern an längst verflossene Pracht. Während auf der Faleza die bunten Kostüme der griechischen und russischen Volkstanzgruppen vor den Touristen wirbeln, grasen am anderen Ufer seelenruhig Pferde vor den Ruinen alter Hafengebäude. Der aufgehende Mond taucht die hölzernen Kähne, die rostigen Frachtpötte und das fremde Kreuzfahrtschiff im Hafen in gnädiges silbernes Licht. Selene, die Göttin des Mondes, erhebt sich mit mildem Lächeln über die Stadt, die ihren Namen trägt. Der Wind streicht sanft durch die Blätter der Akazie vor dem Palast der Europäischen Donaukommission und flüstert die Geschichte dieser einst so blühenden kosmopolitischen Handelsstadt...

Sulina Ende des 18. Jahrhunderts. Fremde Besucher beschreiben nicht mehr als  20 schilfgedeckte Häuser, ein paar Cafes und Geschäfte, eine kleine hölzerne Moschee. Die russisch-türkischen Kriege um die Vorherrschaft über das untere Donaubecken brachten der Region wirtschaftliche Unsicherheit und leisteten der Piraterie Vorschub.

1853 zählte der französische Konsul Eduard Engelhardt bereits an die tausend Einwohner, vor allem Ionier, Griechen und Malteser. Doch erst der Friedensvertrag von Paris 1856, der die Gründung der Europäischen Donaukommission (CED) in Sulina zur Gewährleistung einer freien Schiffahrt auf der Donau nach sich zog – unterzeichnet von Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich, der Türkei, Preußen und Sardinien – brachte unverhofften Aufschwung. Über Nacht wurde das Städtchen an der Donaumündung zum Zentrum für Schifffahrt und Handel. Ein reichhaltiges, gesellschaftliches Leben erblühte.

Streifzug durch die Stadt

Wir verlassen die gepflasterte Hafenpromenade und streifen durch das malerische,  fast verlassen anmutende Städtchen. In der zweiten und dritten Parallelstraße, die nur Strada II-a und Strada III-a heißen, verliert sich nicht nur der Asphalt, sondern auch jede Spur von Tourismus und moderner Zivilisation. Hölzerne Häuser – einige davon geschichtsträchtig wie das türkische Haus, nach 1956 von der italienischen Reederfamilie Foscolo bewohnt, oder das griechische Konsulat mit drei verschnittenen Zedern im Garten, andere mit himmelblauen Fensterläden, typisch für die Wohnhäuser der Lipowaner – säumen die staubige Fahrbahn. Eine fröhliche Touristengruppe radelt auf  den schicken „Arosa“-Mountainbikes des gleichnamigen Kreuzfahrtschiffs vorbei.

Im Hof der griechisch-orthodoxen Kirche zum Heiligen Nicolae ertönen die Glocken im stakkatohaften Rhythmus des aus rumänischen Klöstern bekannten Trommelbretts (toaca). Sie hängen nicht im Turm, sondern in einem ebenerdigen Pavillion im Hof und werden manuell geschlagen. Gegenüber prangen in einem feuerrot gestrichenen Verschlag zwei ebensolche metallene Eimer, hinter denen sich diskret  Feuerlöscher verbergen. Die düstere, mystische Kirche schützt uns eine Weile vor den gleißenden Sonnenstrahlen.

Dem heiligen Nicolae sind hier fast alle Kirchen gewidmet, ob russisch-orthodox nach altem oder neuem Ritus, rumänisch, griechisch oder katholisch, denn er gilt als Schutzpatron der Seefahrer. Auf einem Baum vor dem Gebäude der europäischen Donaukommission hängt eine handgeschriebene Notiz: „Verkaufe lebende Köder: rote Regenwürmer, Maulwurfsgrillen,  Blutegel“. Kreativ muss man sein, will man in Sulina überleben. Denn vom einstigen blühenden Handel ist heute allenfalls der Tourismus als Lebensgrundlage geblieben. 

Leuchtturm mit Museum

Am Leuchtturm, dem sogenannten Faro, treffen wir erneut auf die Radlergruppe. Das 1995-1997 sehr schön restaurierte Gebäude mit prächtigem Blumengarten vor dem Eingang beherbergt ein Museum, das über die Geschichte Sulinas informiert. Erste Hinweise auf einen Leuchtturm am linken Donauufer gab es bereits in einem osmanischen Dokument aus dem Jahr 1745. Zur Zeit der CED waren sogar drei Leuchttürme im Einsatz– darunter auch dieser am rechten Ufer, der 1879 von der otomanischen Leuchtturmverwaltung an die CED übergeben worden war. Seit 2003 gehört er wie alle Museen und archäologischen Stätten des Landkreises dem Öko-Museumskomplex in Tulcea an, der nach französischem Modell Ökosystem und Kultur gemeinsam erforscht und verwaltet.

 Die beiden unteren Räume des Leuchtturms sind historischen Persönlichkeiten aus Sulina gewidmet. Der eine Saal ist dem Büro des CED-Komissars, militärischen Schiffskommandanten während des Ersten Weltkrieges und späteren Schriftstellers Eugeniu P. Botez (1874-1933), alias Jean Bart, nachempfunden. Von seinen Werken ist vor allem der in zwölf Sprachen übersetzte Roman „Europolis“, eine metaphorische Beschreibung der Hafenstadt Sulina mit ihrem gesellschaftlichen Nationalitätenmosaik, bekannt. Der zweite Saal widmet sich dem hier geborenen Dirigenten George Georgescu (1887-1964).

In einem Nebengebäude informieret eine Ausstellung über die historische Entwicklung der Stadt: Dank der Präsenz der CED und der Freihandelszone im Hafen erfuhr Sulina zwischen 1870 und 1931 einen spektakulären wirtschaftlichen Aufschwung und avancierte zum Haupthafen für den Getreideexport. Der Handel prägte das  Stadtbild: Holz- und Steinhäuser mit Geschäften, Werkstätten und Cafes im Parterre schossen aus dem Boden. Konsulate und Reedereien ließen sich in Sulina nieder. Im Sommer 1927 wurde das Kasino eröffnet, ein auf Eichenpfählen errichteter Holzbau. Bälle und Besuche des Königshauses bereicherten das gesellschaftliche Leben.

Die Anwesenheit der CED hatte die Entstehung einer multikulturellen Gesellschaft, geprägt von Toleranz, nach sich gezogen: 1904 erwähnt M. D. Ionescu die Präsenz von 2056 Griechen, 803 Rumänen, 594 Russen, 444 Armeniern, 268 Türken, 211 Österreich-Ungarn, 173 Juden, 117 Albanern, 49 Deutschen, 45 Italienern, 35 Bulgaren, 24 Engländern, 22 Tataren, 22 Montenegrinern, 17 Polen, 11 Franzosen, 7 Liopwanern, 6 Dänen, 5 Gagausiern und 4 Indern. Entsprechend bunt war die Landschaft ihrer Schulen und Gotteshäuser.

Erst die große Wirtschaftskrise 1929-1933 leitete den Niedergang Sulinas ein. Mit der Übernahme der CED durch den rumänischen Staat 1939 zog sich schließlich auch die internationale Community zurück, das kosmopolitische Leben kam zum Erliegen.

Von der Aussichtsplattform des Faro bietet sich ein eindrucksvoller Blick über die in die grüne Ebene hingestreuten Häuser. In der Ferne ergießt sich der türkisgrüne Donauarm nach und nach in das tiefblaue Wasser des gar nicht schwarzen Meeres. Möwen ziehen kreischend Kreise über rostigen Kähnen. Es riecht nach Algen, Tang und Meer...

Der multiethnische Friedhof

Zu Fuß schlendern wir die mittlerweile asphaltierte Straße in Richtung Meer entlang, vorbei an Schilfzäunen, gepflegten und verwilderten Gärten.  Ziel ist der multiethnische Friedhof, 1864 von der CED angelegt, zunächst nur für Christen, doch ab 1871 auch mit muselmanischem Teil, gefolgt von einem jüdischen Sektor. Auf letzterem, durch eine Pforte mit Davidsstern zugänglich, zeugen zwei- und dreisprachige Grabsteine in rumänisch, hebräisch, italienisch und griechisch von  Familien gemischter Nationalitäten. Im türkischen Teil  tragen die Stelen je nach Mode zur gegebenen Zeit rote Feze oder steinerne Turbane. Die Gräber der Armen, die sich keinen beschrifteten Stein leisten konnten, kennzeichnet ein schlichter Felsbrocken, am Kopfende platziert.

Um das Grab eines reichen Türken scharen sich die steinblumenbekränzten Stelen seiner sechs Frauen, der Abstand verrät ihren Status. Im orthodoxen Teil erkennt man die Gräber der Lipowaner an den typischen Kreuzen mit dem geneigten Zusatzbalken. Sieben Nationalitäten und sieben Religionen sollen hier begraben sein, erzählt unser Führer, der Lehrer Valentin Lavric aus Sulina, der den Friedhof ausführlich studiert hat und zu manchem Grab illustre Geschichten zu erzählen weiß.

Der Tod macht alle gleich: den Freimaurer mit seinem gewaltigen, von Symbolen übersäten Monument; den griechischen Piraten; die Prinzessin Ecaterina Moruzi, Nichte des moldauischen Herrschers Ioan Sturdza und angeblich Vorbild für eine Romanfigur aus „Europolis“, die ihrem Liebsten, dem Kapitän Mihail Draghigescu, nach Sulina gefolgt sein soll; den Engländer, der seine neben ihm bestattete Schwester vor dem Ertrinken retten wollte... Am Ende des katholischen Friedhofsteils dann ein freies Feld. „Hier werden keine Toten mehr begraben“, klärt Lavric auf, denn erst vor knapp zwei Monaten habe man dort ein Sammelgrab deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt.

Sandstrand zum Träumen

Zur Belohnung geht es zum Schluss zum etwa zwei Kilometer entfernten Strand. Feiner weißer Sand erstreckt sich als endloser Streifen bis zum Horizont. Zwei schilfgedeckte Holzhütten versorgen Touristen mit Lebensmitteln, Liegen und Sonnenschirmen, ansonsten ist der Strand herrlich unverbaut. An der Grenze zwischen Wasser und Himmel reihen sich Frachtschiffe wie Perlenketten aneinander. Das Sulina von einst ist Vergangenheit. Nur noch das endlose Meer erinnert sich...