Spontane Wunderheilung

Mein Freund Hartwig aus Frankfurt dolmetscht wie ich für die Polizei und Justiz aus dem Rumänischen ins Deutsche und umgekehrt. Hartwig hat einen unwiderstehlichen Hang zum sarkastisch-schrägen Humor. „Mit den Rumänen und Roma aus Rumänien kommt man als Dolmetscher auf keinen grünen Zweig“, meint er. „Die meisten sind voll in Ordnung, und die Straffälligen klauen immer nur T-Shirts und Tennisschuhe und so ein Zeug. Im besten Falle hält man sie dann einige Stunden fest, wonach man sie wieder laufen lässt, wegen Geringfügigkeit. Wilde Schießereien nach bester Mafia-Tradition oder einbetonierte Leichen, nach denen der BND, die CIA und der Interpol verzweifelt fahnden, und wo ein schöner Prozess jahrelang dauern kann, sind bei diesen kläglichen Versagern Fehlanzeige. Wie soll man da mit dem Dolmetschen Geld verdienen? Es ist ein Jammer.“

Da hat Hartwig offensichtlich recht, ich brauche bloß an diese Geschichte zu denken: Am letzten Mittwoch wurden im Düsseldorfer Polizeipräsidium drei junge Frauen aus Rumänien vernommen, und ich war als Dolmetscher auch dabei. Nach der Rechtsbelehrung und Feststellung der Personalien, hielt einer der zwei anwesenden Kommissare ihnen vor, sie hätten sich in der S-Bahn nach Mönchen-gladbach wiederholt als Taubstumme ausgegeben und Geld für ein nicht existierendes Taubstummenheim in Bukarest eingesammelt. Dies sei Betrug, Vortäuschung falscher Tatsachen wie auch Belästigung der Fahrgäste, da die Beschuldigten laut Zeugenaussagen immer wieder alte Frauen flehend am Rock gezerrt hätten.
Ich dolmetschte dies alles der Reihe nach und kam dabei zunehmend in Fahrt, sodass ich am Ende der Vernehmung ganz unamtlich sauer hinzufügte: „Immer dieselbe Masche! Habt ihr sie denn noch alle?! Wenn man euch noch mal erwischt, gibt’s mindestens 10 Jahre Knast.“
„Wir tun das nie wieder“, sagten die Frauen.
„Oh, Mann! Jetzt regt sich sogar der Dolmetscher auf“ , sagte der eine Kommissar zum anderen und grinste. Schließlich ließ man die Beschuldigten wieder laufen, ich unterschrieb für die Richtigkeit des Gedolmetschten und ging nach Hause.


Und gestern Vormittag bestieg ich erneut die S-Bahn, diesmal in Richtung Köln, und ich brauche es wohl nicht mehr zu sagen, die drei Frauen befanden sich im selben Waggon wie ich und zogen mit einem beschrifteten Pappschild durch die Gegend: „Wir sind taubstumm. Wir sammeln für unser Taubstummenheim in Bukarest.“ Als die eine mich plötzlich ein paar Schritte weiter  entdeckte, rief sie den anderen beiden zu: „Uite cine-i acolo! Guck mal, wer dort steht!“ Und weil die S-Bahn gerade hielt, stürzten sie alle drei auf den Bahnsteig, wo sie sich aufgeregt miteinander austauschten.
Eine junge Frau vor mir, die ihnen gerade zwei Euro zugesteckt hatte, meinte verblüfft: „Die sind ja gar nicht taubstumm! Die können ja reden!“
„Stimmt“, sagte ich. „Aber vorher konnten sie es noch nicht. Wir haben gerade  eine Wunderheilung erlebt.“