Stummfilm „Das neue Babylon“ (1929) mit Live-Orchesterbegleitung

Filmmusik von Dimitri Schostakowitsch im Bukarester Athenäum

In der vergangenen Woche konnte man im Bukarester Athenäum Zeuge eines seltenen und besonderen Ereignisses werden. Aufgeführt wurde dort, abgespielt von einer DVD und auf einen großen Monitor projiziert, einer der großen Klassiker des sowjetischen Stummfilms, das 1929 entstandene cineastische Werk „Das neue Babylon“ von Grigori Kosintzev und Leonid Trauberg. Die Originalmusik von Dimitri Schostakowitsch wurde von Mitgliedern des Rumänischen Jugendorchesters interpretiert: einem Streichquartett mit Kontrabass, einem Schlagzeuger, verschiedenen Holz- und Blechbläsern, von kaum mehr als einem Dutzend allesamt hervorragender Musiker also, durchweg in solistischer Besetzung. Die Leitung hatte der französische Komponist und Dirigent Amaury du Closel inne, der seinerseits als Komponist von Stummfilmmusik, etwa zu cineastischen Werken von Abel Gance oder Viktor Tourjansky, hervorgetreten ist.

Schostakowitsch komponierte die Musik zum Film „Das neue Babylon“ im Alter von 23 Jahren, nachdem er bereits im Jahre 1925 als Neunzehnjähriger mit seiner Ersten Sinfonie, der Abschlussarbeit seines Studiums am St. Petersburger (damals Petrograder) Konservatorium, weltweit Anerkennung gefunden hatte. Man spürt sofort, wenn man dieser Filmmusik lauscht, dass hier ein Meister am Werk ist, der souverän mit musikalischen Formen und Stilen zu spielen, Melodien gleichermaßen zu zitieren, zu verfremden, zu kombinieren und eigenständig fortzuführen in der Lage ist. Da die Marseillaise in dieser Komposition eine zentrale Rolle einnimmt, könnte man die gesamte Musik zu „Das neue Babylon“ ihrer Gattung nach auch als Thema mit Variationen charakterisieren, wobei diesem Thema je nach seiner filmdramatischen Bedeutung immer wieder neue Valeurs und Nuancen abgewonnen werden. Besonders eindrucksvoll ist eine Variation, bei der die Marseillaise mit dem unter dem Namen „Can-Can“ besser bekannten „Galop Infernal“ aus Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“ leitmotivisch enggeführt wird, zumal Offenbach in der genannten Oper selbst die französische Nationalhymne musikalisch zitiert.

Die beiden thematisch wichtigsten Filmmelodien, der Can-Can und die Marseillaise, symbolisieren denn auch musikalisch bereits die wichtigsten Akteure des Films. Da ist zum einen die Pariser Bourgeoisie, die sich ganz dem Genuss und dem Vergnügen hingibt, sich auf Bällen amüsiert, Theater und Operette genießt und ihr Geld mit vollen Händen, zum Beispiel im luxuriösen Kaufhaus „Das neue Babylon“, ausgibt. Daneben gibt es die ärmeren Schichten Frankreichs, Angestellte, Arbeiter und Bauern, aus zeitgenössisch-sowjetischer Perspektive das Proletariat, das sich von der Bourgeoisie beherrschen und ausbeuten lässt. Zeitpunkt der Filmhandlung sind die Monate der Pariser Kommune im Frühjahr 1871 während der Nachkriegswirren des Deutsch-Französischen Krieges. Die Marseillaise symbolisiert dabei einerseits das nationale Moment, das zwar die Gesamtheit aller Franzosen mit einbegreift, das sich aber in politischer Hinsicht als partikulär und ambivalent erweist. Die Marseillaise ist sowohl ein Revolutionslied, das für die politische Freiheit aller eintritt, und wird zugleich von einzelnen Gruppen des französischen Volkes für sich beansprucht, die sich zu jener Zeit feindlich gegenüberstehen, etwa von der Nationalgarde aufseiten der Kommunarden und von der französischen Armee aufseiten der Regierung.

Vor dem Hintergrund dieser politischen Zerrissenheit, die von Schostakowitsch musikalisch kongenial zum Ausdruck gebracht wird, entfaltet sich dann die dramatische Filmhandlung, die zwei Protagonisten in ihren Mittelpunkt stellt: Louise, die Angestellte im Luxuskaufhaus „Das neue Babylon“, und Jean, den einfachen Soldaten in der von der französischen Regierung kontrollierten Armee, die gegen die aufständischen Kommunarden eingesetzt wird. Die Liebe der Beiden findet in der Zeit der politischen Wirren keinen Ort. Die Liebenden begegnen sich nur selten, aber in entscheidenden Momenten der Filmhandlung: in der Phase der politischen Ungewissheit zu Beginn, danach wieder auf den Barrikaden, wo sie sich als Feinde gegenüberstehen, und schließlich am Ende des Films, wo Jean damit beauftragt wird, ein Grab für Louise, die von einem Standgericht zum Tode verurteilt wurde, auszuheben.

Ein wichtiges filmisches Leitmotiv bildet dabei eine Kleiderpuppe, die im Kaufhaus „Das neue Babylon“ dazu benutzt wird, teure Gewänder auszustellen und in seinem stilvollen Ambiente dekorativ zu wirken. Diese Puppe wird während der Kämpfe der Kommune auf die Barrikaden geschleppt und dort als Baumaterial verwendet. Außerdem werden ihre wertvollen Spitzenbänder zu Verbandszeug umfunktioniert, um die verwundeten Kommunarden medizinisch zu versorgen. Am Ende des Films wird eine Madonnenfigur, die während der Verurteilungs- und Begräbnisszenen zu sehen ist, ebenfalls als Hypostase dieser Puppe inszeniert, die die Erinnerung an die Revolution wach hält, auch wenn ihre Akteure, die Kommunarden, hingerichtet werden.

Der Film „Das neue Babylon“ lebt von seiner elaborierten Filmästhetik, seiner gelungenen Montage, seinen eindrucksvollen, oft an malerischen Vorbildern orientierten Filmszenen, seiner dem dramatischen Geschehen minutiös folgenden musikalischen Begleitung und nicht zuletzt von seiner politischen Aussage. Für das wohlhabende Bürgertum, das sich, wie die französische Regierung, nach Versailles zurückgezogen hat, wird das Kampfgeschehen zur Operette, das man mit dem Opernglas neugierig verfolgt und dem man am Ende begeistert applaudiert. Nicht von ungefähr wurde „Das neue Babylon“ nach seiner Premiere von zahlreichen Kritikern abgelehnt: der Film sei zu unheroisch und deshalb nicht dazu angetan, den revolutionären Willen des sowjetischen Proletariats zu wecken. Außerdem sei die Musik von Schostakowitsch zu experimentell, zu avantgardistisch und zu komplex. Das Uraufführungspublikum rief damals „Der Dirigent ist betrunken!“, und Stalin sollte wenige Jahre später über Schostakowitschs Musik den Satz sagen: „Das ist albernes Zeug, keine Musik!“ Für das, leider spärlich gesäte, Publikum im Bukarester Athenäum wurde der Abend jedoch zu einem großen Erfolg, der sich in begeisterten Bravorufen und lang anhaltendem Beifall manifestierte.