Tor zur Freiheit oder nasskaltes Grab

Gala für zeitgenössische Geschichte prämiert Buch über Flucht aus Rumänien über die Donau

Die Gewinner in der Kategorie „Das beste Buch“: Johann Steiner und Doina Magheți
Fotos: George Dumitriu

Die zweite Gala für zeitgenössische Geschichte fand im Bukarester Odeon-Theater statt.

Octav Bjoza (links), Vorsitzender des Vereins der ehemaligen politischen Häftlinge in Rumänien, wurde mit dem Sonderpreis „Recht auf Erinnerung“ ausgezeichnet.

„Es gibt keinen Friedhof auf der serbischen Seite der Donau ohne eine Gräberreihe, in der rumänische Bürger ihre letzte Ruhestätte fanden. Sie starben in der Zeit des Kommunismus, beim Fluchtversuch aus Rumänien...“ So beginnt Band I der Berichte von der blutigsten Grenze Europas zwischen 1944 und 1989, die das Land vom ehemaligen Jugoslawien trennte: „Mormintele tac“ („Die Gräber schweigen“). Band II unter demselben Titel hat Ende Mai auf der Gala für zeitgenössische Geschichte unter der Sparte „Das beste Buch“ den ersten Preis gewonnen. Stolz, vor allem aber tief bewegt, steigen die Autoren auf die Bühne. Johann Steiner, ein 1980 nach Deutschland ausgewanderter Banater Schwabe aus Billed, pensionierter Redakteur; acht Jahre hatte er für den „Neuen Weg“ geschrieben, zum Schluss war er für den „Generalanzeiger Bonn“ tätig. Und Doina Magheți, ehemalige Investigationsjournalistin aus Temeswar, spezialisiert auf unbequeme Themen, wie sie sagt. Seit 23 Jahren wühlen sie sich gemeinsam durch Akten und Dokumente, klappern Zeitzeugen ab, klettern über Gräber, sprechen mit Friedhofsverwaltern - und kämpfen bis heute gegen Widerstand und Vertuschungsversuche.

Der Preis ist eine unerwartete Anerkennung für ihre akribische Arbeit - vor allem auch die Gefühlsarbeit. „Ich hätte nicht gedacht, dass es ein Puzzle ohne Ende gibt“, hebt Doina Magheți an. Dann kommen ihr die Tränen. „Dieses Buch ist ein Puzzle ohne Ende“, flüstert sie bewegt. „Bis heute kann ich nicht mehr fröhlich mit dem Zug über diesen Donauabschnitt fahren...“ Für wie viele Menschen wurde der Grenzfluss zum nassen, kalten Grab? „Rumänen, Banater Schwaben, Ungarn, Roma...“ zählt Johann Steiner auf. In voller Fahrt aus dem Zug gesprungen. Geschwommen. Ertrunken. Erschossen. Mit dem Boot überfahren. Gefoltert. „Dieses Buch lässt einen schaudern“, bekennt Jury-Mitglied Theodor Paleologu. Steiner verrät: Ein dritter Band ist in Planung.

„Alles musste furchtbar schnell gehen“

Es begann im Januar oder Februar 1990, kurz nach der Revolution. Johann Steiner war mit einem Hilfstransport nach Rumänien unterwegs. Bei einem Besuch auf dem Friedhof im serbischen Novi Sip fiel ihm auf, wie viele Gräber von namenlosen Rumänen es dort gab; Menschen, die bei der Flucht aus ihrem Land ums Leben gekommen waren. „Ich hatte den Pass zur Ausreise 1980 erhalten – andere mussten illegal über die Donau“, erinnert sich Steiner bewegt. Er sprach damals ausführlich mit dem Totengräber und verfasste einen Artikel für seine Zeitung in Bonn.

Doina Magheți begann im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Tageszeitung „Cotidianul Timișoara“ mit den schwierigen Recherchen. „Man schickte mich oft zur Grenzpolizei, aufs Militärgericht oder zu Strafverfolgungsorganen – ich hatte gute Kontakte.“ Eines Tages gab ihr der Sprecher der Temeswarer Grenzpolizei eine Liste in die Hand: Verbrechen an der Grenze. Darauf Namen, Daten und Vermerke wie „erschossen auf dem Todesstreifen“ oder „Tod durch Verbluten“. Doch als sie Zugang zu diesen Archiven beantragte, biss sie plötzlich auf Granit. Ihr war klar – etwas sollte hier vertuscht werden. „Wenn ich an die Akten nicht ran komme, dann fange ich eben in der umgekehrten Richtung zu recherchieren an“, sagte sich die Journalistin und begann mit der Spurensuche an der Donau. Auf dem Friedhof von Poiana Stelei bei Orșova traf sie auf den Verwalter Adrian Martac. Sie schiebt mir ein Foto über den Tisch. Der Mann darauf, in Flecktarn, war ein wichtiger Augenzeuge gewesen: Er sah, wie Studenten, die aus dem Land flüchten wollten, von einem Hauptmann der Grenzpolizei gefoltert wurden. Den Übeltäter traf er zehn Jahre nach Fall des Kommunismus zufällig wieder. Er war immer noch im Amt, nun im Rang eines Generals. „Wahrscheinlich hat er jetzt eine fette Rente“, stichelt Doina Magheți, bevor sie fortfährt. „Sie brachten die Leichen in Zeltfolie eingewickelt. Einer hatte einen gespaltenen Fuß, vermutlich vom Boot überfahren...“ Ihr Kinn beginnt zu zittern. Es dauert eine Weile, bis sie weitersprechen kann. „Er sagte, sie seien fast noch warm gewesen.“ In der Friedhofskapelle entfernten Ärzte hastig die Kugeln. Nur keine Beweise hinterlassen! Dann wurden sie in der selben Nacht begraben. „Alles musste furchtbar schnell gehen.“ Ob sie keine Angst hat? „Doch, manchmal fühle ich mich beobachtet, immerhin habe ich den Namen des Generals im Buch genannt.“ Wie viel die Menschen für ein Leben in Freiheit riskierten! Magheți erzählt von einem Ärzte-Paar, das seine kleinen Kinder für die Flucht betäubte und in Schaffelle wickelte, bevor sie versuchten, mit dem Schlauchboot über die fast vereiste Donau zu fliehen.

Der serbische Historiker Miodrag Milin in Temeswar brachte die beiden Forscher schließlich zusammen. Seither sind sie ein festes Team. Bevor 2008 der erste Band erschien, hat es 2007 ein Treffen der Flüchtlinge im Donauschwäbischen Zentralmuseum in Ulm gegeben, spinnt Steiner den Faden weiter. Dort traf er auf weitere Zeugen, die er interviewen konnte. Im Anschluss an die Veranstaltung bekam er so viele Zuschriften, dass ein zweiter Band begonnen werden konnte. „Nun wollen wir im Friedhof von Novi Sip in Serbien recherchieren, um dort die offiziellen Geschichten zu erfahren“, motiviert er die Absicht für einen dritten Band. Das Material wird ihnen so schnell nicht ausgehen. Während an der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten zwischen 1945 und 1989, also in 44 Jahren, 1303 Flüchtende ihr Leben verloren, flohen offiziellen Angaben zufolge allein in den neun Jahren zwischen 1980 und 1989 an die 16.000 Menschen aus Rumänien in den Westen. Etwa 12.000 wurden erwischt. An der rumänisch-jugoslawischen Donaugrenze wurden nur im Jahr 1988 mindestens 400 Flüchtlinge erschossen, berichten sie in Band I.

Gala der tragischen Geschichte(n)

Unter einer Gala stellt man sich einen festlichen Rahmen vor, mit Abendkleidern, Blitzlichtgewitter und Cocktail-Empfang. Kontrastprogramm: 22. Mai, Odeon-Theater, Bukarest. Der einleitende Videoclip „Die andere Seite der Jahrhundertfeier“ macht aufmerksam auf Themen, die nicht zum fröhlichen Feiern verleiten: die Diktatur von Antonescu, die Opfer des Kommunismus, die Deportation der Deutschen, die Zwangsumsiedlung der Rumänen, Kriegsgefangenschaft in der UdSSR, Verkauf der Deutschen, Flucht über Grenzen, Hunderttausende ungewollte Kinder in Heime interniert... Es ist die zweite Gala für zeitgenössische Geschichte, die das Untersuchungsinstitut für Verbrechen des Kommunismus und des Gedächtnisses des Rumänischen Exils (IICCMER), unterstützt von der Hanns Seidel Stiftung (HSS), veranstaltet hat. Die erste fand 2016 statt, man hofft auf einen beständigen Zweijahresrhythmus.

In sechs Kategorien wurden von einer Expertenjury – dem Philosophieprofessor Theodor Paleologu, dem Literaturkritiker und Historiker Dan C. Mihăilescu und dem Geschichtsprofessor Bogdan Murgescu – die Gewinner der zuvor nominierten Bücher prämiert: Unter der Kategorie „Das am besten dokumentierte Buch“ gewann der Titel „Zwangsarbeit im Kommunismus in Rumänien“ von Nicoleta Ionescu-Gură den Preis; als „Das beste Buch über Kommunismus“ wurde „Die Demografie Rumäniens in der Zwischenkriegszeit“ von Traian Rotariu, Luminița Dumănescu und Mihaela Hărăguș auserkoren; unter „Die beste Übersetzung eines ausländischen Buches“ ging der Preis an „Corneliu Zelea Codreanu, Aufstieg und Fall des rumänischen Faschistenführers“ von Oliver Jens Schmitt, auf Rumänisch im Humanitas Verlag erschienen; unter „Rückerstattung (Journale, Erinnerungen, Interviews)“ erhielt das Buch „Ion Rațiu“ vom Verlag Corint den Preis, während „Das beste Buch“ Johann Steiner und Doina Magheți mit Band II „Die Gräber schweigen“ lieferten.

Ziel der ungewöhnlichen Gala ist es, die Öffentlichkeit für Publikationen zum Thema Zeitgeschichte zu sensibilisieren. Die Prämierungen werden unterbrochen von suggestiven Videoclips oder Vorstellungen von Projekten, etwa von „Arhiva Memoria 100“, einer Online-Datenbank mit allen Artikeln über Verbrechen und Unrecht im Kommunismus, die in den letzten 100 Ausgaben der Zeitschrift Memoria erschienen sind (www.revistamemoria.ro).


Das Buch von Steiner und Maghe]i schockiert nicht nur, es ist packend geschrieben von der ersten Zeile an. Auf der Bühne liest Doina Magheți einen Zeugenbericht vor. Er handelt von einem Mann, dessen Leiche vom Wasser so angeschwollen war, dass man sie in eine quadratische Kiste packen musste. Wieder kämpft sie gegen ihre Gefühle. So mancher mag sich fragen: Warum brauchen wir solche schrecklichen Erinnerungen?

„Wenn die Erinnerungskultur nicht aufrecht erhalten wird“, motiviert IICCMER-Präsident Radu Preda, „dann ist das wie eine Art Zensur. Wir wollen mit dieser Gala die junge Generation sensibilisieren: Nichts, was heute ist, ist selbstverständlich! Alles hat seinen Preis.“