Türen für Jedi-Ritter, Adidas-Schuhe und Internethumor aus der „Goldenen Epoche“

MARe – Ein Museum von gestern, heute und morgen

Vlad Nancă „Original Adidas“ (2003), Foto auf Duratrans-Box mit Hintergrundbeleuchtung
Fotos: die Verfasserin

Vom zweiten Stock beobachtet Mircea Romans hölzernes „Selbstportrait“ alle Museumsbesucher.

Eine Reihe bunter Acryl-Malereien von Nicolae Comănescu auf einfacher Schachtel-Pappe
Foto: MARe

Ob aus lauter Neugier, Vorliebe für Kunst oder einfach aus dem Wunsch nach besonderen Erlebnissen können Museumsbesucher – jung und erwachsen – im ersten privaten Museum für Gegenwartskunst (rum. Muzeul de Art˛ Recentă-MARe) in Rumänien nach 1989 eine spannende Alternative zur stark institutionalisierten Kunst und zu den manchmal altmodisch wirkenden Kunstmuseen entdecken. Das im Oktober 2018 eröffnete Bukarester Museum wird von einem merkwürdigen schwarzen Gebäude auf dem Primăverii-Boulevard Nr. 15 beherbergt. Wenn euch das Bauwerk den Eindruck erweckt, ihr steht vor einem Bunker, dann habt ihr völlig Recht. Der architektonische Entwurf von Youssef Thome Architects and Associates entspricht nicht nur der kreativen Vorstellung des Museumsleiters, Erwin Kessler, und des Kunstsammlers und Förderers libanesischer Herkunft, Roger El Akoury, sondern dadurch wird auch auf den weiterhin im Kellergeschoss erhaltenen Bunker angespielt, welcher derzeit als Auditorium und Ausstellungsraum für Wechselausstellungen dient.

Die Eingangstür für Jedi-Ritter

Wie man bemerken kann, übt das Gebäude selbst eine unerklärliche Anziehungskraft auf den neugierigen Besucher aus. Betreten wird es wie in Star Wars, nur mithilfe der „Macht“. Die automatische Tür öffnet sich nicht einfach nur, weil man davor steht, und wenn man sie antastet, geschieht wieder nichts. Augenblicklich verwandelt man sich in einen Jedi-Ritter und man nützt „die Macht“, um pantomimisch die gläserne Eingangstür kontaktlos nach rechts zu schieben und sich Karten bei der links gelegenen Rezeption/ Geschenkboutique zu verschaffen. Na ja, einfache Jedi-Ritter müssen für den Museumsbesuch zahlen, denn freien Eintritt bekommen nur Kinder bis 14 Jahren, Personen mit besonderen Bedürfnissen, Studierende der Kunstuniversität, Reporter und Mitglieder des Vereins bildender Künstler. Übrigens befindet sich im Erdgeschoss eine Cafeteria, die von der Preisgestaltung her insbesondere für Jugendliche und Studenten gedacht ist und auch von jungen Mitarbeitern betrieben wird, wie eigentlich  das ganze Museum auch.

In einem Gespräch betonte Erwin Kessler, Kunsthistoriker, Professor und Leiter der Einrichtung, dass der „nach außen wie ein Bunker und nach innen wie ein weißer Würfel in einem schwarzen Loch“ eingerichtete Bau und die ausgestellten Werke von Anhängern vielfältiger Kunstströmungen vor allem frei denkenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer frischen Lebensauffassung gewidmet seien, die seelisch vom Kommunismus-Regime unversehrt geblieben oder nach 1989 geboren sind.

Das über zwei Stockwerke, zwei Zwischenstöcke, Keller-, Erdgeschoss und Dachboden verfügende Museum für Gegenwartskunst MARe, welches mit einem modernen Aufzug ausgestattet ist, verkörpert den Inbegriff einer platzsparenden Praktik und beherbergt über 150 Malereien, Bildhauereien und Readymade-Stücke.  Angeboten wird dem Publikum unmittelbarer Kontakt mit den Exponaten und die Innovation für Rumänien beruht genau auf der Abschaffung des Abstandes zwischen den Besuchern und den Kunstwerken. Auf diese Weise nähert oder entfernt man sich so viel man möchte, um die besten Blickwinkel und die daraus erfolgenden Eindrücke zu bekommen. Da die beiliegenden Texte nur Angaben wie den Autor und den Titel bzw. das Entstehungsjahr des Werks vermitteln, ist man zum besinnlichen Beobachten „gezwungen“, denn erst in der Geschenkboutique sind Ausstellungskataloge mit ausführlichen Erklärungen erhältlich oder in der Bibliothek mit freiem Zugang auf dem Dachboden. Aber ist hemmungsloses Empfinden nicht die beste Interpretationsmethode in einem unkonventionellen Museum für bahnbrechende Kunst?

Das MARe zeigt Meisterwerke rumänischer Künstler ab Mitte der 60er Jahre, als die kommunistische Kulturpolitik nach der Überwindung des „sozialistischen Realismus“ eine größere stilistische Vielfalt zuließ, sowie Kunstwerke, die nach der Wende entstanden sind.

Alles kann Bildträger werden, alle Techniken sind erlaubt

Angefangen mit den üblichen Stoffen wie Leinwand, Holz, Stein, Metall über die bunte  sozialkritische Bildserie von Nicolae Com˛nescu auf gewöhnlicher Schachtel-Pappe oder Daniel Spoerris Readymade-Installation, welche aus einem Stück Schachtel-Pappe und kleinen, scheinbar unwichtigen Dingen eines Obdachlosen besteht und somit den Titel „L’étalage du clochard“ buchstäblich darstellt, bis hin zu den fast unbemerkbaren schwarzen Acryl-Spuren auf weißem Fell von Christian Paraschiv und Muffin-Packungen können alle vorstellbaren Medien Bildträger werden. In dieselbe Kategorie fallen auch die Werke aus unkonventionellen Materialien wie Makramee oder Wachstuch von Ana Băncilă. Besichtigen kann man im MARe im Rahmen der Wechselausstellung „Tricolor“ „das rumänische Wappen“, eine Holzplatte in den Farben der rumänischen Fahne mit aufgeklebtem Makramee als Wappen und als Teil der Dauerausstellung eine farbenfreudige, handgenähte Leinwand mit einer lächerlichen Dichtung der jungen Künstlerin, die bei der Bearbeitung der rumänischen Stereotype als Hauptthema ihres Werks gewollt ins Kitschige rückt. Bewundernswert ist noch das „Who’s Affraid of Blue, Yellow and Red“(dt. „Wer fürchtet sich vor Blau, Gelb und Rot“) betitelte Bild von Daniel Djamo, das als Ergebnis einer sieben Stunden langen Performance entstanden ist. Bei dieser Malerei wirkt die sogenannte „Fußsohlen-Technik“ beeindruckend.

Internethumor aus der „Goldenen Epoche“?

Im ersten Stockwerk des Museums laufen ständig drei Kurzfilme, darunter „Regele Ionescu“(dt. „König Ionescu“) des gleichnamigen Autors, der sich als müßige Gestalt den Passanten auf dem Calea-Victoriei-Boulevard in Bukarest vorstellt. Dieses 1968 gedrehte Lichtbild antizipiert die heutigen Vlogs unheimlich genau. Auch Ion Bârlădeanus Bild-Collagen mit dem Diktatoren-Paar Elena und Nicolae Ceaușescu erregen lautes Gelächter und sind wirklich sehenswert.

Während man ein Exponat nach dem anderen bewundert, bekommt man das Gefühl, von jemandem heim-lich angestarrt zu werden. Man mag das Gefühl, solange man will, nicht achten, aber auf der Treppe wirkt es noch stärker, bis man es nicht mehr aushalten kann und endlich instinktiv heraufschaut. Zur Überraschung der Besucher bückt sich über das Geländer eine dunkle Figur, um besser auf sie herabschauen zu können. Die furchterregende Gestalt ist niemand anders als Mircea Romans hölzernes „Selbstportrait“. Nach der Angstempfindung kann es einem schwindelig werden, wenn man die nebeneinander gestellten schwarzen Holzplatten ohne Titel von Roman Coto{man zu lange bewundert. Man kann doch nichts dafür, denn etwas an der rechteckigen Form der Bilder scheint nicht in Ordnung zu sein und bis man die Besonderheit entdeckt, beginnt man leicht zu  schwanken. Dann entfernt man sich plötzlich und bemerkt rechts den „ersten moldauisch-europäischen Reisepass“, ein Readymade-Kunstding von Pavel Brăila. Dieses harmlose Werk würden Liebhaber des Internethumors zu den sogenannten „Dies geschieht nur in … (Name des Landes einfügen)“-Memes zuordnen, denn nur auf dem Gebiet des ehemaligen Bessarabien kann man durch das Aufkleben von 12 Sternen auf den Reisepass sofort EU-Bürger werden.

„Memes“ sind nicht nur einfache Bilder, deren Begleittext Internetbenutzer zum Lachen bringt, sondern sie widerspiegeln auch eine Vielfalt an Vorstellungen von Welt und Leben. Das beste Beispiel dafür aus dem MARe-Museum wären „Die ursprünglichen Adidas-Schuhe“(„Original Adidas“), die als Foto auf einer Duratrans-Box mit Hintergrundbeleuchtung zur Schau stehen. Das 2003 entstandene Werk von Vlad Nanc˛ rückt einen der älteren Generation wohlbekannten  schweren Umstand aus der „Goldenen Epoche“ ins Rampenlicht der Gegenwart. Dabei geht es um die unteren Teile des Schweinebeins mit den Hufen, die zur Zeit des Kommunismus in Rumänien humorvoll „Adidași“(dt. Adidas-Schuhe) genannt wurden. Damals litten die Massen wegen des Lebensmittelmangels und manchmal waren die „Adidași“ die einzigen Fleischprodukte, die in den leeren Läden nach langem Warten in einer Schlange verfügbar waren. Die verstörte Wirklichkeit wird vom Künstler als zwei kurze, übereinander gelegte Schweinebeine mit Hufen und je drei darauf geklebte schmale, flache Borten, die dem Adidas-Logo ähneln, aufgestellt und nachher fotografiert. Das Foto gilt Internetsurfern als ein echtes „Meme“, welches ein für allemal beweist, dass die Rumänen sich die (uminterpretierten) Adidas-Schuhe als erste aneigneten, bevor sie zum unentbehrlichen Element der stereotypischen Alltagskleidung im Internet berühmter hockender Russen wurden.

Somit bietet das MARe-Museum seinem Publikum, neben den merkwürdigen oder humorvollen Werken, auch subversive regimekritische oder geistlich orientierte Kunststücke der ernsten Meister der rumänischen Gegenwartskunst, wie Ion Țuculescu, Paul Neagu, Horia Bernea, Vioara Bara, Florin Mitroi, Ștefan Bertalan, Pavel Ilie, Alexandru Chira und viele andere. Die Besichtigung der beeindruckenden Dauerausstellung sowie der Wechselausstellungen bereitet den Museumsbesuchern eine einmalige Erfahrung, die sie wahrscheinlich längerfristig prägen wird.