Über die „wahre“ goldene Zeit

Großrumänien zwischen den Weltkriegen: Wirtschaftswunder und Kulturblüte nach der großen Vereinigung 1918

Überdie Folgen der großen Vereinigung sprachen Dr. Liviu Ţăranu (li.) und Dr. Florian Banu.
Foto: George Dumitriu

„Bukarest – die dynamischste Stadt des Landes“ steht in großen Lettern an der Wand. Darunter erfährt man: Die Hauptstadt war in der Zwischenkriegszeit ein wahrer Anziehungspunkt, ihre Bevölkerung wuchs von 341.000 Einwohnern 1912 auf 639.000 im Jahr 1930 an. Die Wirtschaft boomte: Verantwortlich für das demografische Wachstum und die Modernisierungen in der Stadt war die rasche Entwicklung der Industrie. Vorhandene Unternehmen wurden ausgeweitet, neue gegründet, 1938 betrug die industrielle Produktion der Stadt 17 Prozent der des ganzen Landes. Während in Klausenburg nur drei Gebäude mit über drei Etagen existierten und 27 Städte in Siebenbürgen, der Maramuresch, dem Banat und dem Kreischgebiet zu 96 Prozent aus ebenerdigen Häusern bestanden, wurde in Bukarest mit Feuereifer betoniert, asphaltiert, das Beleuchtungsnetz ausgeweitet, Kanäle und Wasserleitungen gelegt, die Müllabfuhr und der öffentliche Transport ausgebaut. In nur 15 Jahren wuchs das Wassernetz von 332 Kilometern auf 665, die Kanalisation von 287 Kilometern auf 581.

„In der Zwischenkriegszeit kannte Bukarest eine goldene Zeit“, schreibt der Historiker Florin Constantiniu 1977 in „O istorie sinceră a poporului român“ (Eine ehrliche Geschichte des rumänischen Volkes). „Nach der militärischen Katastrophe von 1916 und dem harten Frieden von Bukarest 1918, kam die große Vereinigung für das rumänische Volk, vor allem im Altreich, wie ein Erwachen aus einem endlosen Albtraum...“.

In nur zwei Jahrzehnten entwickelte sich die rumänische Wirtschaft auf geradezu spektakuläre Weise. Am kulturellen Horizont blinkten Sterne auf, wie Emil Cioran, Mircea Eliade, Eugen Ionescu und viele andere, die bald auf internationalem Niveau strahlten.

In diesem Jahr wird das hundertjährige Jubiläum der großen Vereinigung 1918 begangen. Welche Folgen sie für Rumänien mit sich brachte, erläuterten am 30. Januar im Bukarester Kulturhaus „Friedrich Schiller“ die beiden Historiker, Forscher und Autoren Dr. Florian Banu und Dr. LiviuŢăranu, beide beim Nationalen Rat zur Aufarbeitung der Securitate-Archive (CNSAS) tätig, im Rahmen einer von Aurora Fabritius organisierten Konferenzdebatte mit dem Titel „Die geschichtlich-soziale Öffnung Rumäniens nach der großen Vereinigung im Jahr 1918“.

Aufschwung mit Nationalbewusstsein

Historisch unterscheidet man zwischen der großen und der kleinen Vereinigung; letztere bezeichnet den Zusammenschluss der Walachei und der Moldau 1859. 1918 kam es dann nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund günstiger politischer Umstände zur großen Vereinigung des Altreichs mit Bessarabien, der Bukowina und Siebenbürgen. Auf dem Thron saßen König Ferdinand (1914-1927) und Königin Maria, die staatlichen Geschicke lenkten maßgeblich die aus einer intellektuellen, frankophilen Bojarenfamilie in Arge{ stammenden Gebrüder Ionel und Vintilă Brătianu.

Die große Vereinigung machte Rumänien flächenmäßig zum zehntgrößten Land Europas, der Einwohnerzahl nach zum zweitgrößten in Zentraleuropa nach Polen, erklärt Ţăranu. Vor allem Siebenbürgen und das Banat brachten eine reiche „Aussteuer“ mit: ihr industrielles Erbe, für das sich die Erdölvorkommen der Walachei als „schwarzes Gold“ erwiesen. Der Aufschwung ist geschickten gesetzlichen Maßnahmen und Reformen für die Modernisierung der Wirtschaft und des Bildungssystems zu verdanken. So gelang es, den Lebensstandard der Menschen auf dem Trümmerhaufen, den der Erste Weltkrieg hinterlassen hatte, rasch zu erhöhen. Dank des neuen Geistes nach der Vereinigung durchlief Rumänien zudem einen wahren Demokratisierungsprozess. Das allgemeine Wahlrecht wurde eingeführt. Neue Parteien entstanden, mit einer starken Anhängerschaft im Volk, mit neuen Gesichtern und großer Offenheit für die Belange der Zivilgesellschaft. Die politische Elite erfuhr eine tiefgreifende Wandlung.

Auf dem Trümmerhaufen des Krieges

Dabei hatte Rumänien nach Ende des Krieges mit mehrfachen Problemen zu kämpfen: eine Million Kriegsopfer gab es allein im Altreich, über 350.000 Kriegswaisen, immense Infrastrukturschäden und finanzielle Probleme, vor allem nachdem der vor der vorrückenden Front in Moskau in Sicherheit gebrachte Staatsschatz nicht vollständig zurückerstattet worden war. Es herrschte Lebensmittelknappheit, Inflation und Teuerungen waren die Folge. Die von Rumänien verlangten Reparationszahlungen wurden nur zu einem sehr kleinen Teil anerkannt und reichten nicht annähernd, um die Schäden abzudecken. Der großen Idee der nationalen Vereinigung standen die Herausforderungen des täglichen Lebens krass entgegen.

Die Vortragenden illustrieren die Lage mit Fotos aus Bukarest: Menschen mit Körben voller Brezeln auf dem Kopf, mit Bauchläden oder auf dem Boden ausgebreiteter Ware. Ein Paar klopft mit einem Hammer auf dem Erdboden Metallkessel in Form. Trotzdem hat man Sinn für Blumen, gleich zwei Roma-Frauen sitzen hinter üppigen Sträußen am Straßenrand. Alles wird gehandelt, verscherbelt, getauscht. Die Produkte des täglichen Überlebens musste man täglich mühevoll beschaffen. „Die Produktion von Zucker, damals ein Grundnahrungsmittel, betrug gerade mal 13 Prozent der tatsächlich notwendigen Menge“, erklärt Ţăranu. Lebensmittel waren knapp und daher völlig überteuert. „In einer solchen Situation erscheinen normalerweise über Nacht reich Gewordene, treten soziale Spannungen auf“, fügt der Experte an.

Doch es wurden rechtzeitig Maßnahmen ergriffen: Auf dem Lebensmittelmarkt verhinderte die Einführung von Höchstpreisen für Grundnahrungsmittel Wucher. Der Export von Getreide wurde acht Jahre lang strikt untersagt. Als entscheidend erwies sich auch die Steuerreform, die direkte Besteuerung einführte. In acht bis neun Jahren erholte sich das Land von der Krise und das Kapital verdreifachte sich. „Vergleichen Sie, wie lange es nach der sogenannten Revolution von 1989 gedauert hat“, provoziert der Vortragende.

Konjunktur der Großindustriellen

Der Ausbau des Eisenbahnnetzes und das Gesetz von 1927 zur Fabrikation von Lokomotiven und Waggons mit mehrheitlich rumänischem Kapital - 60 Prozent der Aktionäre mussten rumänische Bürger sein, ebenso die Mitglieder des Aufsichtsrats und der Direktor, das gesamte Material für den Ausbau der CFR stammte aus nationaler Produktion – waren weitere Schritte zum Erfolg. Eine der wichtigsten Figuren stellte Nicolae Malaxa dar, ein Ingenieur aus Hu{i, der in Karlsruhe studiert hatte, und bald einer der bedeutendsten rumänischen Industriellen wurde. Von einer Reparaturwerkstatt für Waggons und Lokomotiven in Bukarest hatte er es innerhalb von 12 Jahren zum Großfabrikanten gebracht. Die Malaxa-Werke, ein industrieller Konzern erster Klasse in Europa, fabrizierten zuerst Lokomotiven, zwischen 1937-38 richtete der Unternehmer dann auf dem Bukarester Gelände eine Waffen- und Munitionsproduktion ein, die später Basis des nationalen Verteidigungsprogramms wurde. Sämtliche Unternehmen Malaxas hatten Kooperationsverträge mit dem Staat und profitierten von der staatlichen Wirtschaftsförderung.

Wie kann man sich einen industriellen Großunternehmer aus jener Zeit vorstellen? „Malaxa war kein kultivierter Mensch“, erklärt Ţăranu. Er beschreibt ihn als „nicht belesen, doch als Intellektueller, der schon mit 30 ein brillantes Verhandlungsgeschick hatte, über dem Durchschnitt“. Er war berechnend, doch sehr großzügig, wenn er sich von jemandem Gewinnchancen versprach. „Ansonsten ironisch, sarkastisch, verschlossen, bescheiden beim Essen, aber ein Weiberheld, hatte wenig Freunde und viele Feinde. Er steht für die Wirtschaftswelt in der Zwischenkriegszeit“, charakterisiert Ţăranu. 1948 kehrte Malaxa von einer Delegation ins Ausland nicht zurück, wanderte später in die USA ein und wurde dort erneut Unternehmer.

Leitsatz: „Aus eigener Kraft“

Hinter den bahnbrechenden Veränderungen im staatlichen System standen die Brüder Ionel und Vintilă Brătianu, die beide in Frankreich studiert hatten. Ionel war von 1909 bis zu seinem Lebensende Vorsitzender der Nationalliberalen Partei, fünf mal Ministerpräsident, dreimal Innenminister, zweimal Verteidigungsminister und zweimal Außenminister. 1913 schlug er die Reform des Agrarsystems durch teilweise Enteignung großer Besitztümer vor, nachdem er bereits 1907 an der Niederschlagung des Bauernaufstandes beteiligt gewesen war - und „stillte damit den Hunger der Bauern nach Land“, wie es Florian Banu formuliert. 1922 gelangte er an die Spitze der Regierung Großrumäniens. Nach dem Tod König Ferdinands 1927 blieb diese unter dem minderjährigen König Michael I. zunächst an der Macht, doch im selben Jahr starb Ionel Brătianu unter mysteriösen Umständen.

Sein Bruder Vintilă – zur Zeit des Ersten Weltkriegs Kriegsminister, 1922-1926 Finanzminister, zeitweise Direktor der Nationalbank - wurde sein Nachfolger. Bemerkenswerte Leistungen zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung hatte er bereits als Bürgermeister Bukarests (1907-1911) gezeigt. Als Finanzminister ab 1922 wurde er vor allem durch die Umsetzung des Programms „Aus eigener Kraft“ („Prin noi inşine“) bekannt, das sich durch geschicktes Nutzen ausländischen Kapitals bei maximaler Förderung rumänischen Kapitals auszeichnete.

Reale Fortschritte für die Bevölkerung

Banu streicht vor allem die Bedeutung der Agrarreform heraus. Die Umverteilung von Land hatte für die Bauern enorme Bedeutung - „sie impfte das Land gegen den Bolschewismus“. Der Lebensstandard der Menschen stieg. Banu illustriert dies mit Ausschnitten von Zeitungswerbung aus der Hauptstadt für Schlankheitstabletten, Gesichtspuder, Fotoapparate, eine touristische Pension mit Bad in jedem Zimmer. „1934 war Bukarest mit Paris vergleichbar“: Luxusautos wie Pontiac bevölkerten die Stadt, die Menschen hatten dank Einführung des Acht-Stunden- Arbeitstags (1928) und des gesetzlich geregelten freien Sonntags (1925) Zeit für Reisen, Unterhaltung und Kultur. Fluglinien verbanden Bukarest mit Baltschik, Chişinău, Galatz.

Die Bevölkerungspyramide verhielt sich umgekehrt wie heute: Die Mehrheit war jung, es gab Arbeitskräfte und intellektuelles Potenzial. Wissenschaft und Erfindungen erlebten enormen Aufschwung: 1920 gründet Emil Racoviţă das erste Höhlenforschungsinstitut der Welt. 1921 referiert Ştefan Procopiu in Paris über die longitudinale Depolarisierung des Lichts („Procopiu-Phänomen“). In Bukarest produziert das Cantacuzino Institut Impfstoffe. Die Zeitschrift „Gândirea“ erscheint. 1922 patentiert Aurel Persu das aerodynamische Auto. 1926 realisiert Gogu Constantinescu den Schalthebel ohne Zahnräder. 1928 baut Hermann Oberth den ersten Flüssigraketenmotor. 1933 präsentiert Henri Coandă den Prototyp einer „fliegenden Untertasse“, deren Antrieb auf dem Coandă-Effekt beruht.

Die Literatur erfuhr mit Lucian Blaga, Liviu Rebreanu, Ion Barbu, Mihail Sadoveanu, Tudor Arghezi und anderen eine Blütezeit. Durch die Reform des Bildungswesens nahm der Analphabetismus signifikant ab: 1930 konnten landesweit 57 Prozent der Bevölkerung lesen und schreiben - 55,8 Prozent im Altreich, 45,3 Prozent in der Süddobrudscha, 38,1 in Bessarabien, 65,7 in der Bukowina und 67 in Siebenbürgen. 59,8 Prozent besuchten die Schule, wobei Rumänien in dieser Hinsicht allerdings immer noch hinterherhinkte. Zum Vergleich: In Bulgarien waren es 91 Prozent, in Ungarn 95, in Polen 96 und in der Tschechoslowakei sogar 100 Prozent.

Interessant sind auch die demografischen Veränderungen: 1920 stellte die Landbevölkerung 77,8 Prozent dar - bis 1939 stieg sie auf 81,8 ! „Die rumänische Bevölkerung blieb überraschend ländlich, ihr Prozentsatz nahm in der Zwischenkriegszeit konstant zu“, erklärt Banu. In den Dörfern legte man Wert auf Tradition, Veränderungen konnten nur langsam Fuß fassen. Von den 172 Städten beherbergten die größten 20 über die Hälfte der urbanen Bevölkerung und 53 Prozent aller Unternehmen in Handel, Industrie und Transportwesen.

Schließen wir mit Florin Constantiniu: „Die große Vereinigung 1918 war und ist die hervorragendste Seite der rumänischen Geschichte“, schreibt dieser 1977. „Ihre Größe besteht darin, dass die Realisierung der nationalen Einheit weder das Werk eines einzelnen Politikers war, noch einer Regierung, noch einer Partei; sondern historische Tat der gesamten rumänischen Nation, umgesetzt mit Elan, Kraft und im Bewusstsein der Einheit des Volkes, ein Elan, der von den politischen Führern kontrolliert wurde, um ihn mit bemerkenswerter politischer Intelligenz zum gewünschten Ziel zu führen.“