„Unsichtbare Räume“

Werke des britischen Malers Francis Bacon in der Stuttgarter Staatsgalerie

Francis Bacon (1909-1992) zählt zu den bedeutendsten Malern des 20. Jahrhunderts. Bereits 1985, also noch zu Bacons Lebzeiten, hatte die Stuttgarter Staatsgalerie dem figurativen Künstler eine Werkschau gewidmet. Nun, über dreißig Jahre danach, knüpfte die Staatsgalerie unter dem Motto „Unsichtbare Räume“ an diese Präsentation Baconscher Werke an, indem sie vierzig großformatige Gemälde, selten gezeigte Zeichnungen und Papierarbeiten, Fotos und andere Atelierdokumente des exzentrisch-expressiven Künstlers in einer sehenswerten Ausstellung versammelte. Die Leihgaben – die Staatsgalerie selbst besitzt nur ein einziges Gemälde von Bacon – stammten u. a. aus dem Museo Thyssen-Bornemiza in Madrid, aus dem Museum of Modern Art in New York und aus dem Hirshhorn Museum and Sculpture Garden in Wa-shington und waren mit der fantastischen Summe von sage und schreibe eineinhalb Milliarden Euro versichert.

Die Stuttgarter Ausstellung führte in eindrucksvoller Weise Grundkonstanten des Baconschen Schaffens vor Augen: die malerische Konzentration auf die Figur und den menschlichen, zumeist männlichen Körper; die Positionierung der jeweils dargestellten Gestalten in unsichtbaren, nur erahnbaren Räumen, die durch schwarze Flächen, Podeste, Gerüste, Käfige, Gitterkonstruktionen oder vergleichbares Rahmenwerk konstituiert werden; und last but not least das Motiv des zum Schrei geöffneten Mundes, das in Bacons Gesamtwerk geradezu obsessiv wiederkehrt. In allen Bildern Bacons zeigt sich die Schutzlosigkeit und das Ausgeliefertsein des oftmals als gefangen und eingesperrt dargestellten Menschen, in allen seinen Bildern tritt im wahrsten Sinne des Wortes die Fleischlichkeit menschlicher Existenz zutage, die sich nicht selten in Form von Landschaften aus Muskeln, Haut und Körperfleisch dem Betrachter präsentiert, der sich diesen starken, ja überwältigenden optischen Eindrücken kaum entziehen kann.

Francis Bacon wurde 1909 als Sohn eines Veteranen der Burenkriege und Zureiters von Rennpferden in Dublin geboren. Wegen seiner Homosexualität wurde Bacon 1926 noch als Jugendlicher von seinem Vater des Hauses verwiesen. Reisen führten ihn nach Berlin und Paris, wo er mit der Kunst Picassos, Soutines, Ernsts und de Chiricos in Kontakt kam. Bacon begann als Autodidakt Ölbilder zu malen, vernichtete jedoch 1945 bis auf 17 Gemälde sein gesamtes Frühwerk der Jahre 1929 bis 1944. Mit dem Trip-tychon „Drei Studien zu Figuren am Fuße einer Kreuzigung“ erlebte Bacon, der in einer Zeit abstrakter Tendenzen in der Gegenwartsmalerei mit seinem gegenständlichen Ansatz eine Sonderrolle beanspruchte, seinen künstlerischen Durchbruch. Es folgten zahlreiche Einzelausstellungen, Werkschauen und Retrospektiven, die Bacons Bedeutung als eines bedeutenden Repräsentanten der modernen Kunst der Gegenwart eindrücklich unterstrichen. Auch sein von Spielleidenschaft, Alkohol und homosexuellen Beziehungen bestimmtes exzessives Leben trug zu seiner künstlerischen Fama bei.

In der Stuttgarter Ausstellung waren markante und charakteristische Merkmale des Baconschen Schaffens zu bewundern. Zunächst einmal sind hier die vier monumentalen Triptychen zu erwähnen, die das Serielle der Kunst Bacons hervorheben und zugleich dessen Bändigung in einer traditionellen Form der Altar- und Andachtskunst: „Triptychon“ (1967); Triptychon – Studien nach einem menschlichen Körper (1970); „Drei Studien des männlichen Rückens“ (1970); „Drei Studien für ein Porträt von John Edwards“ (1984). Jedes dieser Triptychen überwältigt durch die monumentale Körperlichkeit des Dargestellten, jedes rückt eine Figur, z. T. in mehrfacher Brechung, in den Vordergrund, jedes hat Porträtqualitäten, die, wie andere Porträtstudien, die Kunst Bacons auf biografische Hintergründe hin durchsichtig werden lassen. Am kraftvollsten ist dabei vielleicht das Triptychon aus dem Jahre 1970, das im Mittelgemälde ein, wie in einer Peepshow exponiertes, kopulierendes Paar zeigt, das in den Seitengemälden von Voyeuren und einer Filmkamera beäugt wird.

Des Weiteren sind vier Bilder aus der Papstserie Bacons zu erwähnen, von denen eines auch das Ausstellungsplakat ziert: die „Porträtstudie VII“ aus dem Jahre 1953. Francis Bacon schuf – nach dem Vorbild von Diego Velázquez’ Gemälde „Papst Innozenz X.“ – rund fünfzig Bildnisse von Päpsten, in denen er nach und nach seine Technik der malerischen Verunklärungen, der verwischten Gesichter, der sich überlagernden Raumkonzepte und der spinnennetzartigen Liniengerüste entwickelte und vervollkommnete. Auch die zwei Gemälde aus der siebenteiligen Serie „Mann in Blau“ (1954), die an Bilder Edward Hoppers erinnern, ordnen sich in diesen Zusammenhang von Porträtserien ein, die nur eine andere Hypostase jener malerischen Studien darstellen, in denen Menschen wie Tiere als gequälte Kreaturen in ihrem hilflosen Ausgeliefertsein zur Schau gestellt werden. Dazu zählen auch die „Studie eines Pavians“ (1953) und das einzige im Besitz der Staatsgalerie befindliche Bild Bacons mit dem Titel „Schimpanse“ (1955).

Zu erwähnen sind außerdem zahlreiche Bilder, die die Bedeutung des Schreis für das künstlerische Schaffen Bacons betonen, darunter nicht zuletzt die „Studie zur Kinderfrau aus dem ‘Panzerkreuzer Potemkin’“ (1957), dem berühmten Film Sergei Eisensteins aus dem Jahre 1925, in dem besagte Kinderfrau durch einen Schuss tödlich im Gesicht getroffen wird und ikonisch mit weit geöffnetem Mund und verrutschter Brille ihrem Tod entgegensieht. Der in Bacons Kunst die Zähne bleckende, tierhaft klaffende, zu einem Lachen oder Gähnen verzerrte, schreckhaft oder angstvoll aufgerissene Mund wird dabei zum Symbol des stummen Aufbegehrens gegen die conditio humana und knüpft damit nicht zuletzt kunstgeschichtlich an die berühmte, auch in Lessings Schrift „Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie“ erörterte Frage an, ob der schon in Vergils „Aeneis“ erwähnte trojanische Apollonpriester in der 1506 wiederentdeckten Kopie der berühmten antiken Skulptur der Laokoon-Gruppe im Todeskampf mit weit geöffnetem Mund schreit oder nicht.

In der Erinnerung haften bleiben neben den Gemälden in der Stuttgarter Bacon-Schau auch die zahlreichen Fotos, Zeichnungen und Atelierdokumente, die beweisen, dass Bacon durchaus – und entgegen seinen eigenen Aussagen – Vorstudien zu seinen malerischen Werken angefertigt hat. So entstehen aus übermalten Fotos in Boxsport-Magazinen neue Bildentwürfe, so wirkt ein Foto in „Paris Match“ aus dem Jahre 1966 mit dem jordanischen König Hussein fast wie ein Entwurf zu einem Baconschen Papstporträt, so fügen sich handschriftliche Anspielungen auf die Kunst Rodins und Gauguins zu neuen Bildkompositionen, und so erweist sich die Beschäftigung mit Eadweard Muybridges Chronophotografie als unglaublich inspirierend für das künstlerische Schaffen dieses bedeutenden Malers der Gegenwart, der durch die Wucht und Kraft, aber auch durch die Gewalt und Brutalität in seinen Bildern nach wie vor keinen ihrer Betrachter kalt lässt.