Verantwortung

Symbolfoto: sxc.hu

Direkt neben dem Eingang unseres Traktes im Pressehaus hängt seit Jahren ein kleiner Zettel: „Atenţie, cade tencuiala“ – Vorsicht, der Putz fällt runter. Soll man da jetzt nicht durchgehen, um zu vermeiden, dass einem ein Stuckbrocken auf die Schädeldecke fällt? Oder direkt ins Auge, weil man doch instinktiv den Blick dorthin richtet, von wo die Gefahr droht? Reicht es, den Schirm aufzuspannen? Klar ist jedenfalls, dass der eigentlich für das Problem Zuständige durch das Aufkleben des Papierschildchens mir die Verantwortung für kreative Lösungen zur Gefahrenvermeidung automatisch zugeschoben hat. Er hat pflichtbewusst gewarnt – selber schuld also, wenn ich unter diesen Umständen noch zur Arbeit gehe. Oder nicht statt durch die Eingangstür lieber per Strickleiter an der Rückwand des Hauses, dort, wo die ADZ-Büros liegen, hochklettere...

Elegant gelöst – und sehr rumänisch! Auch in der Bukarester Altstadt begegnet man solchen Schildern auf Schritt und Tritt, gerne in Begleitung eines zweiten: „Cad şi pietre“ – auch die Steine fallen. Stadium drei wäre dann wahrscheinlich der Zusatz: „Haus fällt ein“. Bitte geschickt zur Seite springen! So wird der Stadtspaziergang zur sportlichen Herausforderung. Ähnlich verhält es sich mit dem roten Punkt auf den erdbebengefährdeten Gebäuden. Der aufmerksame und voraussehende Passant wechselt sicherheitshalber die Straßenseite, die andern sind selber schuld, wenn ihnen ein Haus auf die Birne fällt. Auch die Mieter sind vorgewarnt und können im Falle eines Bebens selbstständig und frei entscheiden: Aus dem Fenster springen oder bleiben und beten.

Ein Missstand? Im Gegenteil. Eröffnet uns dies nicht ein Mittel, in vielen Situationen des Lebens lästige Verantwortung ebenfalls elegant und effizient abwälzen? Wie wär’s zum Beispiel mit einem Schild „Licht geht nicht“ auf dem Autoscheinwerfer, als Warnung für andere Verkehrsteilnehmer und Erklärung gegenüber der Polizei, falls sie einen im Dunkeln aufhalten sollte. Oder „Bremse defekt“ in Spiegelschrift groß auf der Kühlerhaube, damit es der Vordermann im Rückspiegel auch korrekt lesen kann. Nachlässigkeit kann einem jedenfalls nicht vorgeworfen werden – man hat die Gefahr ja angekündigt. Auch der Straßendienst könnte auf diese Weise viele Millionen einsparen. Statt frühmorgendlichem Schneepflugeinsatz und lästigem Streuen genügt ein einziges Schild: „Achtung, Eis auf der Fahrbahn!“ So erübrigen sich auch die kostspieligen Absperrungen vor Baustellen, die ohnehin nur den Verkehr behindern. Ein schlichtes: „Vorsicht, Loch“, an den Rand des Abgrunds geklebt, warnt ausreichend vor der Gefahr. Falls doch jemand reinfällt, selber Schuld, man hat ja darauf  hingewiesen!

So landet der Unaufmerksame mit seinen Knochenbrüchen im Krankenhaus, wo er gerade in den OP geschoben wird. Kurz vor der Tür dann ein Schild: „Heute keine Narkose!“ Darunter ein kleineres: „Auch das Sterilisationsgerät ist kaputt“. Ob der Anästhesist krank ist oder ob ihm nur ein pflichtbewusst gekennzeichneter Altstadtbalkon auf den Kopf gefallen ist, erfährt der Patient freilich nicht...