Verblüffende Begegnung in der Bibliothek

Treffen der Generationen in Reschitza: Der Autor und seine frühere Französischschülerin in der Kinderbibliothek.

Ich wohne seit 1977 in Düsseldorf. Im letzten Sommer war ich auf Besuch in meiner Heimatstadt Reschitza, und dort hatte ich die Idee, das Kulturhaus im Zentrum aufzusuchen, um herauszufinden, ob es die riesige Stadtbibliothek meiner Kindheit dort immer noch gibt. Ja, es gab sie noch, genau wie damals, in der zweiten Etage, und sie war sogar noch riesiger als früher. Die aneinandergereihten, inzwischen erneuerten Bücherregale reichten bis an die Decke, und zwischen den Regalen hindurch führten zwei schmale Gänge, auf denen es mir mehr Spaß machte zu flanieren als an einem Karibikstrand.

Die vor einem PC-Monitor sitzende Bibliothekarin, die sich als Eugenia Burileanu vorstellte, wunderte sich über die Heimkehr des verlorenen Lesers und bot mir eine Tasse Kaffee an. Ich erzählte ihr folgende Geschichte, an die ich mich noch gut erinnern konnte: Als ich etwa acht Jahre alt war, hatte ich mich zusammen mit meinem gleichaltrigen Freund Joschka als Leser in dieser Bibliothek angemeldet. Jeder von uns hatte ein Buch ausgeliehen, ich konnte mich sogar noch an den Titel erinnern. Bei Joschka war es „Morcoveaţă” (Karottenkopf) und bei mir Pinocchio. Bereits nach zwei, drei Tagen brachten wir diese Bücher wieder zurück, mit der Absicht, uns andere Bücher auszuleihen. „Hört mal, Jungs”, sagte der damalige Bibliothekar irritiert, „so geht das nicht. Wenn ihr ein Buch ausleiht, dann sollt ihr es auch lesen.” „Haben wir schon”, meinten wir, „ jeder von uns hat sogar beide Bücher gelesen.” „Veralbern kann ich mich selber”, meinte der Bibliothekar sauer. „Sie können uns Fragen zum Inhalt stellen”, erwiderten wir. Misstrauisch ließ sich der Bibliothekar auf diesen Vorschlag ein und traute seinen Ohren nicht, als er ein Buch nach dem anderen durchblätterte und uns mal zu Morcoveaţă, mal zu Pinocchios Abenteuer allerhand Fragen stellte und wir sie wie aus der Pistole geschossen beantworteten.

„Vin imediat! Ich bin gleich wieder da!”, sagte Frau Burileanu, als ich meine Geschichte beendete, und machte sich von dannen, um nach kürzester Zeit mit zwei Neuausgaben von Morcoveaţă wieder zurückzukehren. „Es gab bis vor einigen Jahren sogar noch die Altausgabe, die Sie wahrscheinlich damals gelesen haben. Aber sie war so zerfleddert, dass man sie aussortiert hat.” Ja, so geht das, einige Dinge werden im Laufe der Zeit aussortiert und ihre Konturen schmelzen dahin, aber in der Erinnerung bleiben sie bestehen, wie ein frisch gebauter Schneemann.

Der Reihe nach entdeckte ich danach in den Regalen die wunderbaren Bücher meiner Adoleszenz, in Neuausgaben: „Die Schatzinsel” von Robert Louis Stevenson, „Die Reise um die Welt in 80 Tagen”, und „Die Kinder des Kapitän Grant” von Jules Verne, „Der Graf von Monte Christo” von Alexandre Dumas und Charles Dickens’ „David Copperfield”, alles Bücher, welche die graue Tristesse einer in Rauch- und Russschwaden verschwindenden Industriestadt in ein knallbuntes Paradies voller Abenteuer verwandelt hatten.

„Kommen Sie bitte mit, ich möchte Ihnen unsere neue Kinderbuchabteilung zeigen”, meinte Frau Burileanu, und sie führte mich in einen sonnendurchfluteten Raum, auf der anderen Seite des Flurs. Ich sah mich um: Bücher mit bunten Covern in den Regalen, Spielzeug, Lesetische und Stühle. Nur die Leser fehlten, sie waren womöglich mit ihren Smartphones oder Laptops beschäftigt. An einem Schreibtisch saß eine braungebrannte, sympathische Frau, in einem seidenen Blumenkleid. Sie hatte langes, blond gefärbtes Haar und war um die sechzig Jahre alt. Frau Burileanu stellte sie mir als Maria Păun vor, Bibliothekarin in der Kinderbuchabteilung. Ich dachte einer optischen Täuschung zu unterliegen, als ich merkte, wie Marias Gesichtszüge bei meiner Ansicht plötzlich weicher wurden, ihre Lippen leicht zu zittern begannen und in ihre Augen Tränen traten. Nein, es ging hier offensichtlich nicht um einen Pollenallergie-Anfall. „Sie waren mein Französischlehrer, als ich in der zwölften Klasse war. Sie haben sich überhaupt nicht verändert”, sagte sie. „Bloß ihr Haar ist etwas ergraut.”

Nun ja, ich war auch zutiefst gerührt und verblüfft, so etwas passiert einem nicht alle Tage. Und immer wieder denke ich über Marias Worte nach. Ich sollte mich überhaupt nicht verändert haben? Ja, sie hatte wohl recht, ich hatte mich seit meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr über-haupt nicht verändert, bis auf mein etwas ergrautes Haar. Und bis auf meine zusätzlichen zwanzig bis dreißig Kilos, meine Keith-Richards-Gesichtsfalten, meine Depressionen, meine Herz- und Magenprobleme und einiges mehr, bin ich bis heute derselbe wie damals geblieben. Alter und Jugend sind im Grunde identisch, das weiß doch jeder, der ab spätestens vierzig nie mehr wieder in den Spiegel schaut.

Als ich die Kinderbuchabteilung verließ, verabschiedete ich mich von den beiden Bibliothekarinnen mit einem Spruch von Joan Collins, dem Denver-Clan-Star der 80er Jahre: „Das Alter ist völlig irrelevant, es sei denn, man ist eine Flasche Rotwein.”