Verfassungskonflikte zwischen Politik und Recht

Buch von Michael Hein vergleicht Bulgarien und Rumänien nach 1989

Michael Hein: Verfassungskonflikte zwischen Politik und Recht in Südosteuropa. Bulgarien und Rumänien nach 1989 im Vergleich, Baden-Baden: Nomos Verlag 2013, 518 S., ISBN 978-3-8329-7755-9

Nach der Wende von 1989 stellte die Transformation der Institutionen von Politik und Justiz eine der größten Herausforderungen der neuen Demokratien in den Ländern Ost- und Südosteuropas dar. Verkrustete und von den Kommunisten beherrschte Strukturen konnten nur schwer aufgebrochen und erneuert werden. So sind Ineffizienz und Einflussnahme, Korruption und Politisierung der Justiz oftmals bis heute ein ernstes Problem. Die neosozialistischen Parteien wollten die Kontrolle über das Justizwesen nicht verlieren, manche „Reformer“ wollten die Kontrolle oft genug schnellstmöglich selbst erlangen und die Politik will sich nach wie vor nur selten damit abfinden, dass eine um Unabhängigkeit ringende Justiz nicht mehr nur Spielball von Interessen, sondern die Judikative selbst als dritte Gewalt im Staat eigenständiger Akteur auf der politischen Bühne ist. Von der Gleichschaltung der Institutionen hin zur Gewaltenteilung führt ein langer Weg. 

Michael Hein widmet seine Dissertation diesem Spannungsverhältnis von Politik und Recht. Die vorliegende Untersuchung beleuchtet die Verfassungskonflikte zwischen Politik und Justiz am Vergleich der Fallbeispiele Bulgarien und Rumänien. Die sehr sorgfältige, präzise und detailreiche Analyse Heins überzeugt inhaltlich wie methodisch. Die Arbeit gibt aufschlussreiche Antworten auf die beiden erkenntnisleitenden Fragen, welche institutionellen Regelungen Verfassungskonflikte zwischen Politik und Recht ermöglichen bzw. provozieren und welche Folgen diese Konflikte für das Politik- und das Rechtssystem, mithin für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit haben. Hein analysiert alle in Bulgarien und Rumänien nach 1989 aufgetretenen Verfassungskonflikte zwischen politischen und rechtlichen Staatsorganen bzw. Akteuren, in denen „zentrale staatsorganisatorische Problemlagen bzw. konstitutionelle Kompetenzen der beteiligten Institutionen umstritten waren“. Neben den genannten Konfliktfeldern der Justizreform und der Bekämpfung politischer Korruption geht er auch auf die Selbstständigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit und verschiedene Versuche einer politischen Kontrolle der Judikative ein. Hein kommt auf zehn Verfassungskonflikte in Bulgarien und drei in Rumänien.

Der Autor fasst auf der theoretischen Grundlage der Systemtheorie von Niklas Luhmann Politik und Recht als eigenständige Funktionssysteme der Gesellschaft auf und fragt danach, ob und wie in beiden Fällen das Recht aus seiner Unterordnung unter die Politik gelöst wurde und beide Systeme autonom voneinander eingerichtet und institutionell neu aufeinander bezogen worden sind nach dem offiziellen Ende der autokratischen Gesellschaften, in denen die Differenzierung von Politik und Recht zugunsten der Politik aufgehoben war. Rumänien und Bulgarien bieten sich für den politikwissenschaftlichen Vergleich an, da die EU-Integration parallel verlief und in beiden Ländern nach 1989 eine Reihe schwerwiegender Verfassungskonflikte zu beobachten war. Dabei werden Verfassungskonflikte nicht nur als destruktive Krisenphänomene, sondern auch als „Motoren der Konsolidierung“ verstanden (S. 35).
Als Verfassungskonflikt definiert Hein „Auseinandersetzungen (…), in denen entweder ein oder mehrere Akteure dieselbe konstitutionelle Kompetenz beanspruchen, oder einem Akteur von einem oder mehreren anderen eine bestimmte konstitutionelle Kompetenz abgesprochen wird“ (S. 47). Die Verfassungsgebung nach 1989 wird als „Konstitutionalisierungsvorgang“ verstanden, der parallel zur Demokratisierung, der Umwandlung zum Rechtsstaat und der Änderung der Wirtschafts- und Eigentumsordnung erfolgte. In Bulgarien tauchten rasch Verfassungskonflikte auf, in Rumänien erst nach 1996, nachdem erst in diesem Jahr wirkliche Reformkräfte an die Macht kamen und mit alten Kadern im zu reformierenden Rechtssystem in Konflikt gerieten.

In beiden Ländern konnten die Wende-Sozialisten einen starken Einfluss auf Politik, Recht und Wirtschaft aufrechterhalten. Auffällig ist in beiden Ländern die tiefe Spaltung der hoch politisierten Gesellschaft, die sich auch im Versuch der Instrumentalisierung der Justiz äußert, wie Hein überzeugend nachweist. In beiden Ländern gibt es in der Politik massive Verschmelzungen von ehemaligen kommunistischen Eliten, Geheimdienstlern und kriminellen Gruppierungen. Die alte Nomenklatura erwies sich im Politik- und Justizbetrieb als weiter wirkmächtig und einflussreich. Machtwechsel präsentieren sich nach wie vor als Regimewechsel. Die Entwicklung in Rumänien erklärt Hein nachvollziehbar mit dem Konzept des „Patrimonialismus“ als „stark personalisiertes, autoritäres oder semi-autoritäres Regime“ im Sinne eines ausgeprägten Klientelismus in der politischen Praxis (S. 324 ff).
Hein beschreibt in beiden Fällen, wie Justizinstitutionen aller Ebenen immer wieder politischer Einflussnahme ausgesetzt waren und sich die neuen Verfassungsordnungen trotzdem auch dank einiger Verfassungsänderungen als stabil erwiesen, wobei er das politische System Bulgariens insgesamt für stabiler hält als das konfliktreiche System Rumäniens. Immer stärker manifestierte sich in beiden Fällen auch der Wunsch nach dem EU-Beitritt als Motiv für die nötigen Veränderungen. In beiden Fallbeispielen werden die Verfassungskonflikte sorgfältig vor dem jeweiligen politischen Hintergrund stringent reflektiert, die Verfassungsentwicklung spiegelt die referierte politische Entwicklung wieder. Interessant ist Heins Hinweis, dass bei beiden Verfassungsentwicklungen der Einfluss ausländischer Berater marginal blieb trotz des offiziellen Ziels, Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz gerade im Blick auf den EU-Beitritt zu gewährleisten.

Angesichts mancher Auftritte heute wird gerne vergessen, welcher Befreiungsschlag in Rumänien der Machtwechsel 2004 und die Wahl von Traian B²sescu zum Präsidenten bedeutete nach der massiven Politisierung der Justiz durch die Sozialisten unter Ion Iliescu zwischen 2000 und 2004, als die PDSR/PSD ein familiäres Netzwerk mit Dutzenden von Familienangehörigen in die obersten Gerichte spannte; Justizministerin Stănoiu versetzte praktisch alle Staatsanwälte, die in Korruptionsverfahren sowie Verfahren im Zusammenhang mit den Ereignissen vom Dezember 1989 tätig waren, setzte die Vollstreckung der Urteile gegen frühere Armeegeneräle wegen der Schießbefehle im Dezember 1989 aus und hob Urteile zu Immobilienrückgaben auf. Justizgehälter wurden zur Einschüchterung des Apparats eingefroren, was die Korruptionsanfälligkeit erhöhte. PSD-Premier Adrian Năstase forderte öffentlich eine regierungsfreundliche Rechtsprechung, die Korruptionsbekämpfung erlahmte vollständig (S. 350 ff). Hein spricht von „einer umfassenden Repolitisierung der Strafverfolgungs-, Rechtsprechungs- und Selbstverwaltungstätigkeit der Judikative“ und der dunkelsten Periode im Blick auf die Unabhängigkeit der Justiz im postkommunistischen Rumänien (S. 358). Die zweite Wende im Justizwesen nach der von 1996 bleibt vor allem mit den Namen der Justizministerin Monica Macovei und Generalstaatsanwältin Laura Codruţa Kövesi verbunden.

Immer wieder drängt sich seit 1990 der „Verdacht einer Selbstbegünstigung der politischen Elite“ auf (S. 445). Hein wertet die Lage „in beiden Ländern hinsichtlich der Effektivität und durchgängigen Unabhängigkeit der Justizinstitutionen als weiterhin prekär“ (S. 462). Dem kann wohl nicht ernsthaft widersprochen werden. Der vorliegende Band stellt eine Ausnahmeleistung dar. Hein legt eine inhaltlich, systematisch, methodisch und stilistisch exzellente Untersuchung vor, die es verdiente, auch auf Rumänisch und Bulgarisch zu erscheinen.