Verluste, aber auch ein Aufbruch

Martin Rill: Erforschung, Dokumentation und Erhaltung des baulichen Kulturerbes in Siebenbürgen als Lebenswerk

Kuriosität in Durles - Fresken moldauischer Künstler in einer sächsischen Kirche. Links: Konstantin und Helena. Rechts: Maria mit dem Jesuskind.

Martin Rill beim Interview - fotografiert von George Dumitriu, der an dem Erfassungsprojekt des siebenbürgischen Kulturerbes in den 90ern beteiligt war.

Der fast 500-jährige Altar in Bogeschdorf Fotos (5) Martin Rill

Links Bogeschdorf, oben Bulkesch: Als es zum Jahreswechsel 2015/16 plötzlich zu schneien begann, verlängerte Rill seinen Aufenthalt, mietete sich ein Geländefahrzeug und preschte in drei Tagen bei minus 34 Grad, 40 Zentimeter Schnee und stahlblauem Himmel durch 28 Orte.

Er starrt auf das Foto und kann es nicht glauben: der sächsische Friedhof von Belleschdorf/Idiciu, der auf der  Luftaufnahme 1994 noch zu sehen ist – verschwunden, einfach vom Erdboden verschluckt! Perplex fragt er im Dorf herum. Doch von den dort lebenden Rumänen weiß niemand etwas über dessen Existenz. Schließlich trifft er auf einen alteingesessenen Rumänen, der ihm  bestätigt  –  den  Friedhof  gibt es, er liegt im Wald. Im Wald? „Tatsächlich, da war der Wald drübergewachsen - 20 bis 30 Zentimeter dicke Stämme!“, lacht Martin Rill auf und räumt ein: „Es gibt Verluste, Gott sei Dank wenige. Aber auch einen Aufbruch...“

Siebenbürgen: Vieles hat sich verändert seit dem 4. Juli 1989, an dem der aus Kleinscheuern/Şura Mică stammende Kunsthistoriker und Museologe am Brukenthal-Museum nach Deutschland ausgewandert ist. „Doch gleich nach der Wende war ich wieder da - zur Sicherung des Kulturerbes, als der Exodus losging“ bescheibt Martin Rill den Beginn seines Lebenswerks: Zuerst fungierte er als Koordinator des Siebenbürgisch-Sächsichen Kulturrats bei der von der Bundesregierung geförderten Bestandsaufnahme des Kulturerbes der Siebenbürger Sachsen in Rumänien. „Es ging um die Erfassung im ländlichen Raum 1991 bis Ende 1995“ erklärt Martin Rill. „Wir haben auch dem rumänischen Staat geholfen, Unterlagen für die Einreichung für das UNESCO-Weltkulturerbe zusammenzustellen.“ Danach war er wissenschaftlicher Mitarbeiter des Donauschwäbischen Zentralmuseums in Ulm (1997),  Rumänienbeauftragter des Donaubüros Ulm und Vorstand des Deutsch-Rumänischen Forums in Berlin; schließlich Büroleiter des rumänischen Generalkonsulats in Baden-Württemberg. Zahlreiche Ausstellungen und Bildbände gehen auf sein Konto. In der Erforschung, Dokumentation und Erhaltung des bauhistorischen Erbes in Rumänien hat er sich bleibende Verdienste erworben. „Seit zwei Wochen bin ich nun Rentner“ schmunzelt Martin Rill. Doch der wohlverdiente Ruhestand muss warten...

Mit Bildbänden für Siebenbürgen werben

„Etwa zehnmal im Jahr reise ich nach Siebenbürgen“, erzählt Martin Rill und holt weit aus. Denn sein neuestes Projekt hängt mit der Inventarisierung des Kulturerbes in den 90er Jahren zusammen. Aus dieser Arbeit ist die sogenannte Denkmaltopografie Siebenbürgen entstanden: wissenschaftliche Bildbände, eine Textspalte deutsch, eine rumänisch, eine Spalte Fotos. Eine Inventur mit zehn Orten hatte über 1000 Bilder! Ein gigantisches wissenschaftliches Werk. Doch für die Beantragung von Mitteln vom Bund war es wichtig, das Kulturerbe auch breiten Kreisen in Deutschland zugänglich zu machen, erklärt Martin Rill. 1997 erschien daher der Bildband „Siebenbürgen im Flug“ mit dem Schweizer Fotografen und Flugbildpionier Georg Gester. 8000 Luftaufnahmen wurden dafür geschossen. „Die dritte Auflage ist vergriffen, für 300 Euro das Stück!“, freut sich Rill. Danach beschloss er, regionale Bildbände herauszugeben. Noch im selben Jahr erschien „Das Burzenland“ mit 13 Orten einschließlich Kronstadt/Braşov – auch dies ein Erfolg. Es folgten u.a. mehrere Werke zu Hermannstadt und Umgebung in Vorbereitung auf das Kulturhauptstadtjahr 2007. 2014 erschien dann „Das Repser und das Fogarascher Land“ mit 27 Orten. Nun ist Martin Rill, der frischgebackene Rentner, erneut auf Reisen. Sein neuer Bildband soll das Zwischenkokelgebiet beschreiben, mit 36 Orten zwischen der Kleinen und Großen Kokel. „Es wird selten wissenschaftlich oder populärwissenschaftlich beleuchtet, weil es eher abgelegen ist, bis vor Kurzem gab es nur eine einzige geteerte Straße“, erklärt der Autor. „So blieb in den Orten ein reiches und altes  Kulturerbe erhalten.“

Kuriositäten aus dem Zwischenkokelgebiet

„Die Kirchenburg von Bogeschdorf/B˛gaciu hat einen wunderschönen Altar, der nächstes Jahr 500 Jahre alt wird“ beginnt er zu schwärmen. Und überrascht mit weiteren Highlights: Bonnesdorf/Boian war über 150 Jahre Eigentum des Fürstentums Moldau. „Stefan der Große hatte sich in den Türkenkriegen hervorgetan, hat 50 Jahre lang das Vordringen der Osmanen gebremst. Als Dank belehnte ihn Matthis Corvinus mit einer großen Domäne in Siebenbürgen bei Klausenburg/Cluj und mehreren Dörfern in Kokelburg.“ Auf dem Torturm prangt heute noch das Wappen der Moldau, der Wisent mit Halbmond und Stern. Spuren aus dieser Zeit gibt es auch in Durles/Dârlos, wo die frühgotische Kirche von Moldauer Freskenmalern ausgestaltet wurde. „Mit Inschriften in Slawonisch , im Spruchband steht ‘proroh Ioan’ – sowas gibt es nirgendwo in Siebenbürgen“ erklärt der Historiker. Die prachtvollen Wandmalereien aus dem 15.-16. Jh. wurden im Rahmen eines EU-Projektes gereinigt.

„Da gibt es eine schöne Szene mit Konstantin und Helena – Kaiser Konstantin hatte das Christentum zur offiziellen Staatsreligion erklärt. Sehr ungewöhnlich in einer katholischen Kirche“ betont Rill. Hinzu kommt, dass es auch bemalte Außenfresken gibt. Schon vor 1986 hatte daher die Kunsthistorikerin Juliana Fabritius-Dancu vermutet, dass dort ein Meister aus der Moldau zugange war. Aus dem Zwischenkokelgebiet stammt auch ein besonders gut erhaltener Altar aus dem 16. Jh. aus Schmiegen/Şmig, heute Teil der Dauerausstellung im Bukarester Kunstmuseum. „Er wird selten veröffentlicht und ist kunsthistorisch noch nicht beschrieben“ schwärmt Rill, der ihn in den Bildband aufnehmen will. Ende des 19. Jh. hatte ihn die Kirchengemeinde durch einen neuen Altar ersetzt. Der alte kam ins Museum nach Schäßburg, wo er im Depot herumlag, weil die Mittel zur Restaurierung fehlten, erzählt er. „Er ist eines der repräsentativsten Denkmäler der Siebenbürger Spätgotik – und vollständig erhalten.“

Im Wettlauf gegen die Zeit

Zu 98 Prozent ist der neue Bildband fertig: 700 Großaufnahmen, ca. 330 Seiten stark, erscheinen soll er im Herbst. Dann stehen neue Projekte Schlange: der Unterwald von Mühlbach bis Broos/Oraştie, das Harbachtal mit Agnetheln/Agnita, das Kaltbachtal, Nordsiebenbürgen - „ein schwieriges Gebiet, weil es große Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg gab. Trotzdem gibt es in den 48 Orten noch vieles“, meint Martin Rill. Über 20 Jahre sind vergangen seit dem Kulturerbe-Erfassungsprojekt. Dennoch kann es passieren, dass er in ein Dorf kommt und angesprochen wird: „Wo waren Sie so lange? Warum schreibt die ADZ nichts mehr darüber?“ „Rohtraut oder Manfred und Wolfgang Wittstock haben das Projekt damals begleitet“, erläutert Rill, „denn es war wichtig, dass es auch hierzulande vermittelt wird“.
Zu den Anekdoten, die sich im Laufe der Reisen ansammeln, gehört nicht nur das Erlebnis mit dem verschwundenen Friedhof. Auch den Altarraub in Schweischer/Fişer hat Rill hautnah mitbekommen. Die Tafeln durchgesägt, damit sie in den Kofferraum passen, wurde er über Ungarn nach Italien geschmuggelt. Dank der Fotos von George Dumitriu, seinerzeit Mitglied des Fototeams im Erfassungsprojekt, konnte Interpol jedoch die geraubten Teile identifizieren. Der Altar wurde zurückerstattet, nur die Szene mit der „Dornenkrönung“ fehlt bis heute. Martin Rill hat sie fotografiert und will sie nun durch eine Nachbildung ersetzen. Der Altar steht nun im Teutsch-Haus in Hermannstadt.

Aufbruch und Auferstehung

„Es gibt Verluste, Gott sei Dank wenige. Aber auch einen Aufbruch...“ Letzeres auch dank dem Einsatz von Martin Rill: Längst ist die siebenbürgische Kirchenburgenlandschaft fester Bestandteil der Angebote deutscher Reisebüros. „Und es sind nicht die nur-nach-Schäßburg-und-in Hotels-Touristen“, freut er sich. Ein Riesen-Erfolg sind Highlights wie Dorfbesuche mit Essen auf dem Bauernhof, etwa in Deutsch-Weißkirch/Viscri oder Malmkrog/Mălâncrav. Auch seinen Bildband zum Repser Land hatte er in Deutsch-Weißkirch vorgestellt: „Neben der deutschen Konsulin Judith Urban aus Hermannstadt und Bischofsvikar Zikeli aus Bukarest habe ich alle Burghüter eingeladen.“ Nach dem Gottesdienst in der Kirche und der Buchpräsentation im Ostturm gab es Mittagessen in der Scheune. Auch Studienreisen und Studentenaustäusche im Bereich Kunst oder Wirtschaftsgeographie gehen auf sein Konto. Seither wählen deutsche Studenten, die gar nichts mit Siebenbürgen zu tun haben, dieses Thema für Masterarbeiten.

Reisende, die Rumänien über den Flughafen Hermannstadt verlassen, können ihren Siebenbürgenbesuch  noch einmal revuepassieren lassen: Denn dort steht seine Ausstellung, die im März 2007 auf dem großen Ring vor dem Rathaus eröffnet und im September abgebaut wurde. „Noch heute bekomme ich vereinzelt Mails: ‘Wie schön, wir haben die Kirchenburgentour gerade abgeschlossen - und dort kann man sie nochmal sehen!’“
Längst gibt es auch rumänische Reisebüros, die sächsisches Kulturerbe in ihr Repertoire aufgenommen haben, etwa in Baaßen/Bazna. Rumänen pflegen sächsische Friedhöfe; über die Hälfte der Burghüter sind Rumänen. „In Bonnesdorf gibt es eine große Glocke, die Unwetter vertreibt“, erzählt Martin Rill. Wenn Gewitterwolken nahen, steigt noch heute ein Dorfbewohner auf den Turm und zieht am Strang. Sie läutet wie früher, und sie läutet zum Aufbruch – in ein neues, spannendes Siebenbürgen, in dem altes Kulturerbe und neue Visionen zusammenfließen.