Via carpatica – ein Projekt zur nachhaltigen Regionalentwicklung

Sanften Wandertourismus fördern

In der „Banater Zeitung“ vom 8.11.2016 beschreibt Dr. Cărămidariu die traurige touristische Bilanz Rumäniens: Rumänische Touristen gaben von Januar bis August 2016 200 Milliarden Euro mehr im Ausland aus als ausländische Touristen in Rumänien. Das heißt, die Tourismusbranche Rumäniens arbeitet defizitär – und das, obwohl Rumänien ein herausragendes landschaftliches und kulturelles Potenzial besitzt. Dabei wächst der Tourismusmarkt weltweit stark, mit einem noch stärker wachsenden Anteil des Wandertourismus. Warum kann Rumänien daran nicht teilhaben? Dr. Cărămidariu gibt einige richtige Antworten: Mängel in der Infrastruktur (Eisenbahn!), schlechte Vermarktung, mangelndes Angebot.

Dennoch: Auf die Frage des Tekking-Magazins nach ihrem Geheimtipp für das Wandern in Europa antwortete Lis Nielsen, die dänische Präsidentin der Europäischen Wandervereinigung: Die rumänischen Karpaten! Wir stimmen Frau Nielsen ohne Einschränkung zu, denn unsere Wandergäste, die wir seit 16 Jahren durch die Karpaten führen, sind ausnahmslos begeistert von den Traumpfaden durch Blumenwiesen, von den Begegnungen mit den Bauern, Hirten, Kindern, Alten, von der herzlichen Gastfreundschaft und nicht zuletzt vom kulturellen Reichtum der Karpaten. Aber …

Die Realität

Bis heute machen die Europäischen Fernwanderwege einen großen Bogen um die ukrainischen und rumänischen Karpaten. Außer in den klassischen Wanderländern Tschechien, Slowakei und Polen gibt es kaum Wegmarkierungen nach europäischem Standard. Gute Wanderkarten existieren nur für wenige Gebiete der Ost- und Waldkarpaten. Gedruckte Wanderführer gibt es mangels Käufern ebenfalls nicht. Und: Von Jahr zu Jahr verbuschen mehr Wiesen und Weiden, schöne, regionaltypische Karpatenhäuser verfallen, dafür stehen überall moderne Bausünden herum, finanziert mit im Ausland verdientem Geld. Nina May hat diese kulturelle Degeneration durch blinde Bauwut und Modernisierungswahn am Beispiel der Maramuresch in der ADZ vom 18.9.2016 kritisiert. In abgelegenen Siedlungen leben nur noch alte Menschen, junge Familien – mit italienischen Autokennzeichen – sieht man fast ausschließlich im Urlaubsmonat August.
Der Geograf Prof. Werner Bätzing (Bern, Erlangen) hat dieselben Entwicklungen in der Kulturlandschaft der Alpen seit den 1980er Jahren dokumentiert und am Ende seiner Lehrtätigkeit an der Universität 2015 in einer Streitschrift zur Zukunft der Alpen zusammengefasst: Zwischen Wildnis und Freizeitpark.

Beinahe eins zu eins lassen sich die Argumente auf die Ost- und Waldkarpaten übertragen: Als periphere Gebiete sind sie ebenfalls von Abwanderung und Überalterung der Bevölkerung betroffen. In der Folge wird allmählich die traditionelle Landnutzung aufgegeben, die Landschaft verändert sich, sie wird dunkel, unzugänglich und verschließt sich dem Menschen. Immer mehr Häuser stehen leer. Nur in den Ferien kehren die Abgewanderten zurück, für vier Wochen leben die Dörfer auf, nebenbei wird an halbfertigen, stillos hässlichen Neubauten weitergewerkelt. Warum können die Karpaten nicht vom stark wachsenden Markt „Wandertourismus“ profitieren? Nur in der Hohen Tatra, um Kronstadt und im Fogarascher Gebirge ist Wandern ein Wirtschaftsfaktor mit nennenswerter Wertschöpfung, wenn auch mit geringer Auslastung im Jahresschnitt. Den Kampf um die Kunden, vor allem der zahlungskräftigen aus Mitteleuropa und den Ballungsräumen, gewinnen wenige traditionell starke Destinationen, der große Rest der Karpaten geht weitgehend leer aus. Die aktuellen Rumänien-Angebote der gängigen Reiseveranstalter für Wanderreisen nach Rumänien verdienen mit wenigen Ausnahmen diese Bezeichnung nicht: Meist sind es Busrundreisen mit täglichen Fahrtstrecken bis zu 300 Kilometern, Besuch einer Weltkulturerbestätte, kurzer Spaziergang, vielleicht etwas Folklore – und wieder weg. Alles andere als wertschöpfend und nachhaltig!

Nachhaltige Regionalentwicklung

Was bedeutet dies für die Karpaten? Der Begriff Nachhaltigkeit stammt aus der Forstwirtschaft und bedeutet, dass nicht mehr Holz geschlagen wird als in derselben Zeit an Holzmasse nachwächst. Er bedeutet nicht, dass für einen gefällten Baum ein junger gepflanzt wird!

Ökologisches Fundament

Übertragen auf eine komplexe Landschaft, in der viele Ökosysteme vernetzt sind, heißt dies z. B. Klimaschutz durch ausgeglichene CO2-Bilanz, Stabilität durch Artenreichtum, an die natürlichen Voraussetzungen angepasste Nutzung, Schonung der natürlichen Ressourcen, aber auch Reparatur der Schäden durch früheren Raubbau.

Ökonomischer Erfolg

Die wirtschaftliche Entwicklung hat die langfristige Sicherung eines auskömmlichen Einkommens für alle zum Ziel. Dies wird möglich durch regionale Versorgungsstrukturen, Klein- und Mittelbetriebe auf Familienbasis, Nutzung der Stärken der Region und der besonderen Fähigkeiten der Menschen, Diversifizierung von Produkten und Dienstleistungen und durch eine Landbewirtschaftung, welche die attraktive Kulturlandschaft erhält und gleichzeitig hochwertige Produkte liefert. Für die ökologischen und emotionalen Leistungen der Bauern und Hirten in der klimatisch benachteiligten Bergregion muss ein finanzieller Ausgleich durch den Staat oder die EU erfolgen, wie ihn Dacian Ciolo{ in seiner Zeit als EU-Agrarkommissar gefordert hat. Leider wurde sein Vorschlag zur Neugestaltung der EU-Agrarförderung durch die Vertreter der Großagrarindustrie zu Fall gebracht.

Soziale Gerechtigkeit

Die ökonomische Entwicklung muss allen Bevölkerungsteilen zugute kommen. Die Unterschiede bei Einkommen und Renten sind auf ein für alle tragbares Maß zu verringern. Mobilität, Zugang zu Medien und Bildung sind für alle Mitglieder der Dorfgemeinschaft zu ermöglichen, d. h. die Verbesserung der Infrastruktur muss allen nützen.

Sanfter Tourismus

Der österreichische Zukunftsforscher Robert Jungk formulierte 1980 in der Zeitschrift GEO die Gegensätze zwischen hartem und sanftem Tourismus. Entscheidend ist die Anzahl der Touristen. Sanfter Tourismus nützt gleichermaßen den Reisenden und den Bereisten!  Nach dem Schweizer Geografen Jost Krippendorf bilden nicht die mit viel Material- und Kapitalaufwand errichteten Tourismuseinrichtungen die Hauptattraktionen des Tourismus, sondern die landschaftlichen Reize. Die Form, die Schönheit, die Stimmung, kurz der Erlebniswert der Landschaft ist entscheidend. Fremdenverkehrsunternehmen überschätzen sich. Sie sind in den Augen des Touristen nur Mittel zum Zweck, man nimmt ihre Leistungen nur in Anspruch, um Natur und Landschaft besser konsumieren zu können.

Die viel zitierte Flucht vor dem Alltag in einen Gegenalltag, das Bedürfnis nach Tapetenwechsel, die Suche nach dem Unterschiedlichen, die Ferien als Kontrasterlebnis prägen die touristische Bedürfniswelt.
Schon im Jahr 1805 hat Johann Gottfried Seume postuliert:
Wer geht, sieht mehr, als wer fährt …
Wer zuviel fährt, kann nicht recht auf die Beine kommen ...
Sowie man im Wagen sitzt, entfernt man sich von der ursprünglichen Humanität ...
Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft ...
   
Das neue Wandern

Das neue Wandern, wie es der deutsche Bestsellerautor und Medienprofi Manuel Andrack propagiert, verbindet Landschafts- und Kulturgenuss mit angenehmen und spannenden Erlebnissen. Dies entspricht den Erwartungen des modernen Wanderers. Wer ist nun dieser moderne Wanderer? Welche Ansprüche stellt er an einen schönen Wanderurlaub?
Diesen Fragen sind die Forscher des Deutschen Wanderinstituts und anderer Forschungsinstitute nachgegangen. Ergebnis: Die typischen Wanderer sind zwischen 40 und 70 Jahren alt, überdurchschnittlich gebildet, ohne finanzielle Sorgen, sie wollen sich nicht verlaufen, schöne Landschaften mit viel Natur, aber auch einige Erlebnispunkte und regionale Kultur genießen, auf Naturpfaden gehen, nicht unter Lärm oder Verkehr leiden, keinen schweren Rucksack tragen, eher Ein- bis maximal Dreitageswanderungen oder Rundwanderungen unternehmen. Daraus wurden die Premiumwanderwege entwickelt, die vom Wanderinstitut mit dem europaweit geschützten Wandersiegel ausgezeichnet werden – sofern sie den hohen Ansprüchen genügen. Premiumwege sind die Renner auf dem stark wachsenden europäischen Wandermarkt!  
Trotz verschiedener Anregungen und Ansätze gibt es bisher in der traumhaft schönen Wanderlandschaft der rumänischen Karpaten keinen einzigen zertifizierten Premiumweg – und Wanderer bilden nur eine kleine Gruppe innerhalb der Karpatenurlauber.

Und das, obwohl jetzt schon unzählige wunder- und wanderbare Almwege, Ortsverbindungswege, Hirten-, Jäger- und andere Fußpfade durch die schöne Kulturlandschaft der Karpaten existieren. In den Tälern finden die Wanderer inzwischen preiswerte, familiäre Unterkünfte, die auch gehobenen Ansprüchen genügen, freundliche, hilfsbereite Menschen, dazu die schmackhafte rumänische Küche mit österreichischen und ukrainischen Beigaben.
Natürlich gibt es die bekannten Defizite hinsichtlich Wanderkarten im Maßstab 1:25000, Wegmarkierungen und Wegweisern nach europäischer Norm, Quartieren in den Bergen – alles weitgehend Fehlanzeige! Voraussetzung für individuelles Wanderglück in den Karpaten ist bis jetzt also Orientierungsvermögen, mit eventuell vorhandener Karte und Kompass, mit einer selbst erarbeiteten Route auf dem GPS-Gerät – oder man schließt sich einer der wenigen Wanderreisen in Kleingruppen unter Führung von Wanderprofis an. Hier ist das Angebot bisher überschaubar klein und von höchst unterschiedlicher Qualität.

Via carpatica, eine Chance für die Zukunft

Vor diesem Hintergrund haben nach der Jahrtausendwende etwa gleichzeitig das Institut für sozialwissenschaftliche Forschung in München unter Joachim Jaudas (seit 2005, veröffentlicht z. B. in der „Karpatenrundschau“ im Nov. 2009), die Lustwandeln GbR aus Ulm (im Internet seit 2001, als Via carpatica seit 2006) und der Verein Ostwind e.V. (seit 1995) Konzepte zur nachhaltigen Regionalentwicklung durch sanften Wandertourismus unter dem Begriff Via carpatica entwickelt und publiziert. Olga Kusewytsch bearbeitete 2008 in ihrer Tourismus-Diplomarbeit an der FH Deggendorf die ukrainischen Waldkarpaten. Die Akteure versuchten über zehn Jahre lang Gemeinden, Kreise, Tourismusämter, Vereine und bekannte Privatpersonen für das Projekt Via carpatica zu gewinnen. Leider bisher vergeblich. Die Anfragen wurden meistens nicht einmal beantwortet.

Nachdem Ende 2010 die EU-Donaustrategie verkündet wurde, überschlagen sich die Ereignisse: Interreg-Programme, transnationale Projekte mit Norwegen und der Schweiz, WWF-Projekte, die Karpatenkonvention nimmt Fahrt auf. Die Naturfreunde Internationale, Universitäten und zuletzt auch der Siebenbürgische Karpatenverein und die Europäische Wandervereinigung erfinden, z. T. mit EU-Geldern, das Rad neu, erarbeiten Konzepte und erkunden nochmals die Wege.
Dabei müssten nur die Original-Konzepte der Via carpatica von Projektträgern vor Ort in konkrete Projekte umgesetzt werden. Voraussetzung ist ein Eigenanteil an den Projektkosten und eine EU-konforme Beantragung bei den Gremien der Regionalentwicklung (z. B. LEADER-Aktionsgruppe). Nach der Genehmigung erfolgt eine detaillierte Ausschreibung der Arbeiten, wobei mindestens drei Angebote eingeholt werden müssen.

Den Zuschlag erhält nicht unbedingt der billigste Anbieter, sondern der geeignetste. Die planmäßige Durchführung muss im genehmigten Zeitrahmen erfolgen. Die langfristige Absicherung des Projekts, eine ordentliche Abrechnung mit Mehrfachkontrolle, dann steht der medienwirksamen Eröffnung z. B. eines zertifizierten Premiumwegs, einer renovierten oder neuen Bergsteigerhütte, einer agrotouristischen Einrichtung, eines touristischen Internetauftritts, einer Vermarktungseinrichtung regionaler Agrar- oder Kunsthandwerksprodukte nichts mehr im Wege. Ein Manko lässt sich kurzfristig nicht beseitigen: Die sanfte Anreise der zahlungskräftigen Touristen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz mit der Eisenbahn ist derzeit nicht zumutbar. Die Bahnreise von Wien in die Karpaten dauert bei miserabelster Reisequalität östlich von Budapest länger als zu Zeiten des Kaisers Franz Joseph.  Umso bedeutender ist für die Vermarktung die Qualität des Aufenthalts und der Wanderwege in den Karpaten.