Völkerball statt Videogames

Ein Projekt der Kreisbibliothek Kronstadt nimmt sich vor, traditionelle Kinderspiele neu zu entdecken

Das Projekt „Kronstadt, Hauptstadt der traditionellen Spiele“ fördert die Bewegung im Freien.
Foto: Kreisbibliothek „George Bariţiu“ Kronstadt

„Wir sind die letzte Generation, die Verstecken, Völkerball oder Fangen gespielt hat. Die Kinder von heute haben diese Spiele vergessen“. Mit diesem Satz fängt der sogenannte „Brief der Schlüsselkinder“ an, der seit einigen Jahren im Internet kursiert. Er richtet sich an diejenigen, die in den 70er und 80er Jahre geboren wurden und oft einen eigenen Wohnungsschlüssel hatten, der an einer Schnur um den Hals baumelte. Heute sind die Kinder berufstätiger Eltern streng von Babysittern bewacht und gehen kaum vor das Haus. Sie töten Drachen, fahren in Raumschiffen durch das Weltall und kämpfen gegen Horrorgestalten – das alles vor dem Bildschirm. Laut  Soziologen gehören sie zu der „Indoor-Generation“. Der Grund, weshalb sie immer weniger unbeaufsichtigt draußen spielen, sind teilweise auch die besorgten Eltern, die überall Gefahren sehen.

„Hauptstadt der Spiele“

Gleichzeitig idealisieren dieselben Eltern ihre eigene Kindheit. Nostalgiker aus dem ganzen Land treffen sich regelmäßig in verschiedenen Städten und erinnern sich an ihre Freizeit zwischen den grauen Wohnblocks, als man noch bis zum Abendessen draußen tobte, hüpfte, balancierte und spielte. Auch beim letzten Treffen des „5 MS Braşov“, einer Reihe von Veranstaltungen, wo jeder Redner einen 5-Minuten-Speech halten kann, lautete das Thema „Spiele der Kindheit“. Die Beteiligten wurden gebeten, Fotos oder Gegenstände mitzubringen, die sie an ihre Kindheit erinnern – etwa Turbo-Kaugummis, Gummibänder oder rote Pionier-Krawatten. Ebenfalls finden im Zentralpark seit einigen Jahren regelmäßig kleinere Aktionen statt, wo Kinder die Spiele lernen, die ihre Eltern einst gespielt haben: „Himmel und Hölle“, Seilspringen, Gummi, Fangen und Verstecken.

Dass sich die traditionellen Spiele in der Gefahr befinden, vergessen zu werden, haben auch die Experten von der Kreisbibliothek Kronstadt eingesehen. Vor Kurzem hat die Institution ein Projekt ins Leben gerufen, das sich die Wiederentdeckung der traditionellen Spiele vornimmt, die von mehreren Generationen von Kindern gespielt wurden und seit Beginn der Internet-Ära kaum noch auf den Straßen der Stadt anzutreffen sind. Das Projekt „Kronstadt, Hauptstadt der traditionellen Spiele“ findet zwischen April und November 2015 statt und will den Kindern von heute zeigen, wie ihre Eltern und Großeltern gespielt haben. „Traditionelle Spiele sind Teil des Kronstädter Kulturerbes und zeugen vom Multikulturalismus Siebenbürgens. Heutzutage sind Kinder immer stärker von den neuen Technologien angezogen und haben kaum mehr Zeit für Bewegung im Freien. Die Spiele von einst zeigen, dass es großen Spaß macht, seine Freizeit mit viel Fantasie und mitten in der Natur zu verbringen“, meint Daniel Nazare, Leiter der Kreisbibliothek „George Bariţiu“.

Kinder von heute brauchen Spiele von gestern

Am Sommeranfang gab es schon eine erste Veranstaltung im Rahmen des Projekts. Über 300 Kinder aus 13 Schulen Kronstadts haben mit Hilfe von Lehrern und Freiwilligen gelernt, wie man Völkerball, Blinde Kuh, Murmeln oder „Wolf und Schaf“, aber auch weniger bekannte Spiele aus dem 18. und 19. Jahrhundert spielt. Es wurden auch mehrere Wettbewerbe für Gruppenspiele organisiert. „Viele dieser Spiele haben sich jahrhundertelang im Schei-Viertel erhalten und wurden von mehreren Generationen von Kindern draußen gespielt. Ende der 80er Jahre wurden mehrere Informationen über diese Spiele von Ethnologen erkundet und aufgezeichnet“, meint der Forscher Alexandru Stănescu, der am Projekt mitgearbeitet hat. Unter den vielen Spielen befindet sich auch „Blinde Kuh“, das seit über 2000 Jahren gespielt wird. „Dieses Spiel ist nicht nur für Kronstadt spezifisch, sondern gehört allen Kulturen aus dem europäischen und asiatischen Raum. Das Spiel wurde bereits in vorchristlicher Zeit gespielt und wurde zum ersten Mal im Jahr 330 v. Chr., zur Zeit von Alexander dem Großen, dokumentarisch erkundet“, erklärt St²nescu.

Das Projekt sieht noch vor, dass im September, im Rahmen eines Festivals, 10 Spiele vorgestellt werden, die spezifisch für die in Kronstadt lebenden Minderheiten sind. Darunter befinden sich auch typische siebenbügisch-sächsische Spiele. Während des Festivals werden außerdem verschiedene Workshops angeboten. Die Kinder werden Masken bilden, Märchen erfinden, deren Thema die traditionellen Spiele sind, oder an Bilderbüchern basteln. Der Gesamtbetrag des Projekts, das von Norwegen, Island, Liechtenstein und der rumänischen Regierung gefördert wurde, beträgt 65.000 Lei. Bei den Open Air-Veranstaltungen werden über 2000 Personen erwartet.

Wo einst der Asphalt vollgekritzelt mit Kreidezeichnungen war, wo man Hütten aus Wolldecken baute und bis spät in die Nacht mit dem Ball spielte, herrscht heute nur Stille. Die Kinder der „Generation Indoor“ suchen ihre Entspannung vor dem Bildschirm des Computers, TV-Geräts, Smartphones oder Tablets. Das ist der Grund dafür, dass viele von ihnen unter Bewegungsmangel, Übergewicht, Koordinations- und Entwicklungsstörungen leiden. Diverse Studien haben inzwischen bewiesen, dass Kinder, die unbeaufsichtigt in der freien Luft spielen, regelrecht aufblühen. Sogar die Leistungen in der Schule werden besser. Gruppenspiele im Freien fördern nicht nur die Intelligenz und die Geschicklichkeit, sondern auch soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit, Kommunikationstalent und Führungsqualitäten und sollten deshalb unbedingt ausprobiert werden. Diese Spiele waren über Jahrhunderte hinweg erfolgreiche Begleiter der Kinderzeit und sollten es auch heute noch sein.