„Voll muttiviert“. Alternativlos.

In Deutschland geht alle Macht von der nächsten Groko aus

Eine historische Niederlage jagt die andere, die großen Volksparteien sind mittlerweile bei 26 Prozent (CDU) bzw. 21 Prozent (SPD) der Stimmen angekommen. Die SPD faselt nach dem katastrophalen Wahlergebnis vom 24. September ununterbrochen von „Selbstfindung“ und „Neuanfang“, die CDU hat alles richtig gemacht und würde es nochmal so tun, Angela Merkel dixit. Gerade die SPD liefert das beste Beispiel einer mittlerweile fleischgewordenen Postdemokratie: Wie soll man sonst eine jahrelange, politisch reibungslose, langweilige und „alternativlose“ Zusammenarbeit mit der CDU bezeichnen, die kurz vor der Septemberwahl abrupt endete und in einem fast schizophrenen Wahlkampf mündete, von dem man in der SPD offensichtlich nicht wusste, wie er zu führen ist. Ehe für alle, Klimaschutz, Digitalisierung, soziale Gerechtigkeit oder doch irgendwas mit dem Tabu Einwanderung, trotz des Merkelschen Diktums, darüber würde man nach der Wahl diskutieren, so als wären wir noch beim Hofe des französischen Sonnenkönigs?

Die Rolle des Martin Schulz war wirklich nicht leicht: Ein hochbezahlter EU-Parlamentspräsident, der die Sorgen des kleinen Mannes verstehen soll; der Kanzlerkandidat einer Partei, die jahrelang Angela Merkel gehuldigt hat, die sich nun aber plötzlich als politischer Gegner der „Schwesterpartei“ CDU präsentieren soll; die Idee der „sozialen Gerechtigkeit“ soll dem Volke glaubhaft verkauft werden, der Tatsache zum Trotz, dass die SPD jahrelang aktiv an der immer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich kräftig mitgewirkt hat. Der einzig „kontroverse“ Satz Schulzens, Angela Merkels Verweigerung jeglicher politischen Debatte wäre ein „Anschlag auf die Demokratie“, wurde mit Häme in den deutschen Medien überschüttet, so als ob der Angriff des politischen Gegners auf die Noch-Kanzlerin während des Wahlkampfes eine unerhörte Unverschämtheit wäre, quasi eine Art „lèse majesté“. Und da die SPD-Politiker ja mehr auf die Medien achteten als auf ihre Wähler, endete das Ganze mit dem grotesken Trauerspiel, das im „TV-Duell“ von Martin Schulz geliefert worden ist: Die untertänige Entschuldigung, er würde den Satz nicht wiederholen, gepaart mit seinem anschließenden Bittgesuch, ein zweites TV-Duell führen zu wollen, was von Angela Merkel prompt vom Tisch gewischt worden ist. Der vielleicht langweiligste (und zugleich „kampfloseste“) Wahlkampf aller Zeiten nahm schließlich sein wohlverdientes Ende.

Interessanter ist, was sich politisch nach der Wahl in Deutschland tut, denn es gilt: Vor der Wahl ist nach der Wahl. Die „Sondierungsgespräche“ mit Balkonszenen für die schwarz-gelb-grüne („Jamaika“) Koalition sind nach wochenlangen Plänkeleien gescheitert, eine weitere traurige Episode deutscher Gegenwartspolitik. Nun soll plötzlich doch die SPD wieder ran, die eine Groko mit der CDU bereits zwei Male „kategorisch“ ausgeschlossen hatte, nun muss ein „Nein zum klaren Nein“ her, wie es die Tagesschau treffend formulierte, sonst würde ja ein „Desaster“ von EU-weitem Ausmaße drohen. Wie diese Katastrophe aussähe, variiert abhängig von der Couleur und Hysterie des jeweiligen Mediums, in dem sich die üblichen „public intellectuals“ tummeln, stets Professoren, Journalisten oder „Medienexperten“, die in fast bedenklichem Einklang fortwährend dem Pöbel erklären, was er zu denken oder glauben vermag. Die einen sehen gar die Gefahr, dass die extreme Rechte an die Macht kommen könnte, wie anno dazumal in der Weimarer Republik, da gab es ja auch vorgezogene Neuwahlen (so ein deutscher Geschichtsprofessor in „Der Zeit“); mancher „Medienexperte“ behauptet, Deutschland befände sich in einer „tiefen Staatskrise“, ja sogar der gesamten EU drohe der baldige Untergang („Der Fels Europas bröckelt“, „Handelsblatt“), und das nur weil der Grüne Cem Özdemir, obgleich er seine „Schmerzgrenze“ während der Koalitionsverhandlungen erreicht hat, den FDP-ler Christian Lindner partout nicht überzeugen konnte, alle Prinzipien über Bord zu werfen. Andere wiederum sehen ein Erstarken „der Ränder“, gemeint ist hier natürlich allein die AfD. Hinzu kommen noch diejenigen, die gebetsmühlenartig die Termini „staatstragende Verantwortung“ und „Wählerauftrag“ wiederholen („wieso eigentlich nicht noch eine Groko, so wurde es ja vom Wähler bestimmt!“), eine perfekt orwellsche Umdeutung des tatsächlichen Wahlergebnisses, welches zeigt, dass die beiden Groko-Parteien die meisten Stimmen verloren haben, also nicht bestätigt, sondern vom Wähler bestraft worden sind.

Fast alle Medien zeigen sich unisono, wie auch die meisten Politiker in Talkshows, mit der Idee der Neuwahlen unzufrieden, diese scheinen immer vermieden werden zu müssen oder nur als ultima ratio in Betracht zu kommen, so der Tenor des Ganzen. Der Bundespräsident mahnt alle Parteien zur „Gesprächsbereitschaft“, der Bundestagspräsident beruhigt die Wähler, die Katastrophe wäre nicht ganz so schlimm, sondern, ganz wie in einem Selbsthilfebuch für Depressive, lediglich eine „Bewährungsprobe“, die überstanden werden muss. „Tut Buße und glaubt“, scheint das Motto der Stunde zu sein, woran aber genau, ist momentan im Wahlvolk diffus, nicht aber für den Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, der pastoral-protestantisch in die Kamera fragt, worum es in solch einer „kritischen Situation“ eigentlich geht, „das Parteiinteresse zu maximieren“ oder um „das Land“, also das, was „politisch Verantwortliche für die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes tun sollen und tun müssen“ (Zitat Bedford-Strohm, Tagesschau 9 Uhr, 23.11.2017). Ganz im Einklang mit dieser göttlicher Erleuchtung, so tönt es laut von fern und nah, würden die Ergebnisse einer Neuwahl, wenn nicht ganz genau gleich, dann zumindest sehr ähnlich ausfallen (das natürlich von denselben „Medienexperten“ kommend, die den „Brexit“ und die US-Präsidentschaftswahl auch so sachbezogen vorausgesagt hatten).

Die idealtypische Postdemokratie definierte der britische Professor (!) Colin Crouch anhand von drei Kennzeichen (erstens, der Verfall politischer Kommunikation; zweitens, die exklusiven Privilegien Weniger und drittens, der nur scheinbare Verlust von Gesellschaftsklassen) wie folgt: „Ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden (...), in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben“. Das Spektakel haben wir längst, samt PR-Experten. Den Wahlkampf ohne Kampf hatten wir auch, die Wahlergebnisse stehen auch fest. Und weil man im Wahlkampf nicht gekämpft hat, kämpft man umso verbissener nach dem Wahlkampf, jetzt eben innerhalb jeder einzelnen Partei und später wahrscheinlich auch innerhalb der nächsten Koalition. Das Motto der Satirepartei „Die Partei“, „Inhalte überwinden!“, sollte schließlich zum Leitspruch der nächsten Koalitionsverhandlungen werden, dann klappt es auch mit der nächsten Groko.