Vom Scheitern der Kommunikation

„Die Nashörner“ von Eugene Ionesco auf der Bühne des Staatstheaters Braunschweig

Johannes Kienast (Hans) und Götz van Ooyen (Behringer) auf der Bühne des Staatstheaters Braunschweig. Foto: Thomas M. Jauk/Stage Picture

Was passiert, wenn plötzlich ein Nashorn durch die Stadt trampelt? Im Grunde genommen: nichts. Die einen kriegen einen Schreck, die anderen echauffieren sich im Gespräch, manche brechen in Tränen aus, einer dreht ein Video mit dem Smartphone – und alle kehren dann zu ihrem Alltagstrott zurück.

Auf der Bühne des Staatstheaters Braunschweig, wo das Stück „Die Nashörner“ von Eugene Ionesco zurzeit aufgeführt wird, geht es weniger um die Kritik am Mitläufertum in einer totalitären Herrschaft. Vielmehr wird der Text als Parabel über den Zerfall der menschlichen Kommunikation gedeutet. Für Regisseur Christoph Diem geht es um „Barbarei und Populismus, brandbeschleunigt von Kommunikation 2.0, von Filterblasen, Anonymität und digitalem Skandalisierungsfeuer, davon, dass in den Social Media den lautesten Brüllaffen die meisten zuhören.“

Deshalb bringt Diem die Handlung ins Jahr 2019 nach Braunschweig: Die Nashörner wüten „hier und jetzt“, die Gefahr ist brandaktuell und allgegenwärtig. Das Publikum erkennt heimische Straßenzüge, Cafés, Kirchtürme und Bürogebäude, aber das Vertraute wird vom Tierischen angegriffen und plattgemacht, bis der Alltag vollständig zum Wahnsinn mutiert. Kein Wunder, dass die Aufführung auch klanglich und visuell schrill ist. Grelles Scheinwerferlicht, grölende elektronische Klänge, wilde, mitreißende Rhythmen (Musik: Jörg Wockenfuß), viel Krach und Theaternebel begleiten die Steigerung der Handlung von Nashorn zu Nashorn.

Das erste trampelt nur vorbei, das nächste zertrampelt eine Katze, und im dritten erkennt man bereits den zum Tier gewordenen Ehemann und Bürokollegen, der es schafft, das gesamte Treppenhaus zu zerstören. Die Reaktionen sind aufgeregt und doch nur oberflächlich. Die Kollegen fragen sich, ob es versichert sei und wie die unbequeme Lage juristisch gelöst werden könne. Die einen geben moralisierende Binsenweisheiten von sich („Ein frei herumlaufendes Nashorn ist nicht ok!“), die anderen wittern überall Verschwörungen („Es gibt keine Nashörner“ und „die Journalisten lügen“). Alle reden mit größter Intensität am Thema vorbei.

Das tut symbolisch auch der Logiker (Heiner Take). Er verwickelt Passanten in Dialoge, die keine sind, und wirft mit ungültigen Syllogismen um sich: „Alle Katzen sind sterblich. Sokrates ist gestorben. Also ist Sokrates eine Katze.“ Mit wissenschaftlicher Akkuratesse erklärt er das Vorkommen von Nashörnern und sinniert über die Frage, ob das vorbeistampfende Tier nun ein indisches oder ein afrikanisches sei. Den leisen Einwurf des Protagonisten Behringer (Götz van Ooyen) – „Aber das löst doch gar nicht das Problem!“ – hört niemand. Man streitet über Definitionen, während draußen das Chaos tobt.

Beeindruckend ist die Episode der Verwandlung von Behringers Freund Hans in ein Nashorn. Das Herzstück und die wohl größte technische Herausforderung im ganzen Bühnentext ist kreativ gelöst: Der ratlose Behringer schaut zu, wie sein Freund stufenweise Brüllanfälle durchmacht und eine Schüttelneurose entwickelt, die visuell an Zombie-Serien erinnert, bis er anfängt aus Blumentöpfen zu (fr)essen und ihm buchstäblich ein Nashornkörper anwächst. Johannes Kienast verkörpert die Rolle des Hans hervorragend, die ganze Szene ist ein Genuss.

Die „Rhinozerisierung“ verläuft schleichend: Man streitet ab („Es kann keine Nashörner in der Stadt geben!“), verharmlost („So viele sind es doch nicht!“) und schlägt feige Pseudo-Lösungen vor („Man muss nur darauf achten, dass man ihnen nicht in den Weg läuft!“). Man freut sich, dass es „nur“ ein oder zwei oder drei Nashörner sind, bis es so viele werden, dass man zu ihnen gehören muss. Die Ausreden, um sich dem Herdentrieb hingeben zu dürfen, sind vielfältig: Der laute, zunächst unerschütterliche Wisser (Klaus Meininger) behauptet, man müsse mit der Zeit gehen, der aalglatte Stech (Roman Konieczny) heuchelt: „Ich gehorche meiner Pflicht!“ Je größer die Worte, desto kleinlicher die Taten.

Dynamisch wirkt die Szene, wo Daisy (Larissa Semke) und Behringer allein sind, und auch Daisy schließlich zu den Nashörnern überläuft. Sie singt ins Mikrofon, das Publikum fängt an zu tanzen und Handy-Lichter zu schwingen (angeregt von einigen „Eingeweihten“ im Saal). Das Ansteckende, Mitreißende wird deutlich gemacht, allerdings verliert der Dialog der beiden Figuren in diesem Schlüsselmoment seine traurige Seite im allgemeinen Lärm.

Schließlich bleibt Behringer ganz allein. Der alkoholliebende, stets unpünktliche und gedankenverlorene Außenseiter erkennt die Tragik seiner Lage und schwankt zwischen der Angst, selber Nashorn zu werden, dem schlechten Gewissen, als Mensch übrig geblieben zu sein, und dem Wunsch, zu den anderen dazu zu gehören. Anpassen kann er sich aber nicht, also fasst er den Entschluss „Ihr kriegt mich nicht!“ und versinkt in seiner Einsamkeit. Götz van Ooyen gelingt es, diese Figur in all ihren Facetten und Nuancen glaubwürdig und ausdrucksstark zu verkörpern.

Für Ionesco waren „Die Nashörner“ nach eigener Aussage gleichzeitig Tragödie und Farce. Die Farce ist in der Inszenierung von Christoph Diem meisterlich umgesetzt und scheint das gesamte Staatstheater zu durchdringen. Dieses wirbt für sich nicht mehr auf „Youtube“, sondern auf „Youhorn“, und wer die Homepage dieser Tage aufruft, wird feststellen, dass ein kleines Nashorn den Löwen im Logo des Hauses ersetzt hat. Die Kehrseite des karnevalesken Gepolters? Die Tragödie bleibt im Schatten – die Zuschauer gehen nach diesem Abend sicherlich köstlich amüsiert, aber nicht sehr nachdenklich nach Hause.

Ionescos Bühnentext scheint Konjunktur zu haben, was darauf hindeutet, dass wir möglicherweise in Zeiten epidemischer „Rhinozeritis“ leben. Das Stück steht auf den neusten Spielplänen in Esslingen, Göttingen, Luxemburg, Dresden oder Wien. In Rumänien wird es zurzeit im Theater „Matei Visniec“ in Suceava gespielt und das Hermannstädter Ballett-Theater hat es zusammen mit den Stücken „Die Unterrichtsstunde“ und „Die Stühle“ zu einer „Ionesco-Trilogie“ verschmelzen lassen.