Von den unweigerlichen Konsequenzen der Entscheidungen

Zeitkritischer Film über das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung Behinderter

„Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ mit anschließender Diskussion ist Teil einer Filmreihe des Goethe-Instituts über zeitgenössische deutschsprachige Theaterstücke.
Foto: George Dumitriu

Fasziniert steht Dora an der Rolltreppe, den Granatapfel in der Hand. Der junge Mann darauf dreht sich um, erwidert ihren Blick erstaunt. Dora starrt ihn mit vorgeschobener Unterlippe unverhohlen an. Begehren ist in ihrem Gesicht zu lesen. Zunächst scheint dies den Mann zu befremden – auch, weil die 18-Jährige kein gewöhnliches Mädchen ist... Dora, die sich durch den Blickkontakt bestätigt fühlt, folgt ihm langsam. Bis in die öffentliche Toilette. Guckt ihm erst zu, dann hockt sie sich selbst hin. Es plätschert. Die seltsame Geste der Vertrautheit bricht das Eis. „Für dich!“ hält sie ihm den Granatapfel hin. Was dann folgt – und hier spart der Film nicht mit Details – erschüttert den Zuschauer zunächst wohl genauso, wie später Doras Eltern...

Der Film „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“, beruht auf dem Theaterstück „Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ des Schweizer Dramatikers Lukas Bärfuss, einem der bekanntesten Autoren im deutschsprachigen Raum. Als Bühnenstück wurde es 2003 in Basel uraufgeführt und 2015 von Stina Werenfels verfilmt. Eine rumänische Version des Theaterstücks präsentierte Radu Afrim erstmals 2004 am Theater „Toma Caragiu“ in Ploie{ti. Das Goethe-Institut in Bukarest hatte die Übersetzung des Stücks ins Rumänische finanziell unterstützt, zusammen mit weiteren 50 zeitgenössischen deutschsprachigen Stücken (siehe Theaterrubrik der Webseite). In diesem Kontext wurde der Film am 20. Juni im Rahmen einer Reihe im Zentrum für pädagogisches Theater „Replika“ in Originalsprache mit englischen Untertiteln gezeigt. Im Anschluss fand eine Diskussion mit dem Publikum statt, moderiert von der Journalistin Venera Dimulescu und Mihaela Michailov vom Replika-Team.

Vordergründig geht es in Doras Geschichte um das Zugeständnis eines Menschenrechts für geistig Behinderte: das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung und Familiengründung. Doch die Dramen, die sich für die Menschen in Doras Umfeld daraus ergeben, führen die eigentliche Komplexität der Problematik vor Augen. Nicht nur wird deren Toleranz auf die Probe gestellt und am bisherigen moralischen Weltbild gerüttelt, jede getroffene Entscheidung zieht auch unnachgiebig Konsequenzen nach sich.

Wer ist hier das Opfer?

Die Vermutung der Eltern auf Vergewaltigung scheinen sich zu erhärten: Der Arzt bestätigt den sexuellen Akt. Vater und Mutter umarmen sich tief erschüttert. Doch langsam müssen sie lernen zu erkennen, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Als sich herausstellt, dass Dora den Kerl erneut getroffen hat, sucht die Mutter mit ihr eine Beratungsstelle für sexuellen Missbrauch auf. Mit sensiblen Fragen spürt die Psychologin in das geistig behinderte Mädchen hinein. „Was gefällt dir am Sex?“ fragt sie arglos. „Und was gefällt dir nicht?“ Dora stellt in ihrer Kindersprache klar, dass sie nicht, wie erwartet, das Opfer ist: „Scheiden-Pimmelchen schön.“ Nach einigem Ringen akzeptieren die Eltern das Recht ihrer Tochter auf Sexualleben. Für kurze Zeit genießt Dora mit Peter die Freiheiten einer unbeschwerten Jugend: rasante Autofahrten, ausgelassenes Tanzen, kleine Verrücktheiten, ungehemmter Sex.

Die Probleme nehmen an Fahrt auf, als das Mädchen schwanger wird: Abtreibung, Verhütungsversuche. Für eine zweite Abtreibung ist es dann zu spät. Deutlich tritt in dieser Phase die Einflussnahme der Mutter, Kristin, hervor, die die erste Abtreibung durchsetzt und auf Verhütung besteht, welche Dora konsequent sabotiert. Die Pille will sie nicht: Tabletten sind „bäh“. Die Spirale wird herausgerissen. Unklar bleibt, inwieweit das Mädchen in der Lage ist, die Konsequenzen zu ermessen. Oder die Verantwortung einer alleinerziehenden Mutterschaft – denn daran lässt das Verhalten von Peter keinen Zweifel – zu begreifen. Automatisch stellen sich dem Zuschauer Fragen: Beschränkt Kristin mit ihrer Bevormundung Doras Rechte? Oder tut sie gut daran, ihre Tochter vor sich selbst zu schützen? Wer soll sich um das Baby kümmern? Und: Muss Kristin sehenden Auges diese weitere Bürde auf sich nehmen?

Völlig überfordert

Mit Doras Schwangerschaft beginnt nicht nur für diese eine Berg-und-Talfahrt der Gefühle, die alle Beteiligten überfordert, wie der Film meisterhaft vor Augen führt. Dora, zuvor wie Peter nur an Sex interessiert, träumt urplötzlich vom Heiraten. Peter hingegen inszeniert ein Treffen zu dritt, mit dem Ziel, Dora an einen Kumpel abzuschieben. Als Dora sich gegen die Zudringlichkeiten des Fremden wehrt, bei denen Peter anfangs assistiert, stellt er sich schließlich schützend vor sie. „Du liebst sie!“ konfrontiert ihn der Abgewiesene mit bisher unreflektierten Gefühlen. Und spottet abfällig: „Was für eine süße, kleine Behindertenfamilie!“ Peter sieht sich mit dem Stigma „Behinderung“ konfrontiert, bevor er sich überhaupt darüber klar werden kann, was er für Dora empfindet.
Er fährt mit ihr zum Flughafen. Sie essen Eis, gucken den Flugzeugen zu. Morgen fliegen wir zum Heiraten nach Las Vegas, verspricht er ihr. Als Dora am andern Tag vergeblich wartet, schlägt ihr Glück in Verzweiflung um. „Geh weg!“ trommelt sie auf ihrem Babybauch herum.

Parallel dazu erleben Doras Eltern ihr eigenes Drama. Die Schwangerschaft der Tochter reißt Wunden in die Seele der Mutter, die sich seit Doras Geburt sehnlichst ein weiteres, gesundes Kind wünscht. Eifersucht gewinnt die Oberhand, Kristins beschützende Liebe für Dora schlägt in Selbstmitleid und Ablehnung um. Nach einem Wutanfall, bei dem sie Doras Zimmer vor deren Augen verwüstet, bringt der Vater das Mädchen schweren Herzens in eine betreute Wohngemeinschaft. Das heile Familienleben ist endgültig zerstört.

Der Film wirft Fragen auf, für die es keine Musterlösungen gibt. Als Zuschauer schwankt man zwischen Empathie und Verurteilen der Charaktere. Aus Tätern werden Opfer und wieder Täter.Vor allem Kristin sieht sich mit den Konsequenzen ihres früheren Handelns grausam konfrontiert: Sie war es gewesen, die Doras Medikamente, die sie dämpften und „unter Kontrolle hielten“, eigenmächtig abgesetzt hatte. Aus dem apathischen Wesen wurde ein lebhaftes, fröhliches Mädchen... das auch begann, die Sexualität zu entdecken. Der Film endet mit einem Hoffnungsfunken: Dora stillt ihr neugeborenes Baby, den Blick traurig in die Ferne gerichtet. Kristin liegt nach einem verzweifelten Ausrutscher alleine nackt in einem Swingerclub. Während sie langsam zu sich kommt, hört sie eine klägliche, zaghafte Stimme: „Mama?“ Ob die neu erwachende Mutterliebe am Ende vielleicht doch noch etwas retten kann?