Warum machen wir soviel Aufhebens?

Die britische und amerikanische Haltung in der Frage der Deportation zur Aufbauarbeit in der Sowjetunion von Januar 1945

In einem Dokument, das 1995 Stefan Karner in seinem Buch „Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941-1956“ (im R. Oldenbourg Verlag Wien München) veröffentlichte, wurde erstmals im deutschsprachigen Raum auf den „streng geheimen Befehl 7161 ss“ vom 16. Dezember 1944 Bezug genommen, der anordnete: „Zwecks Zuführung zu Arbeiten in der UdSSR sind alle arbeitsfähigen deutschen Männer zwischen 17 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren aus den von der Roten Armee befreiten Gebieten Rumäniens, Jugoslawiens, Ungarns, Bulgariens und der Tschechoslowakei zu mobilisieren und zu internieren.“

Die zynische Bemerkung Winston Churchills an den britischen Außenminister ist im Archiv in London (FO 371/48536) erhalten.

Zu den Geschichtsmythen in den Gemeinschaften der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben gehört auch jener, dass die Deportation von arbeitsfähigen Frauen und Männern in die Sowjetunion im Januar 1945 von „den Rumänen“ angeordnet worden sei. Die gängige Variante lautet, die Sowjets hätten Arbeitskräfte verlangt und die rumänische Regierung habe die Deutschen ausgeliefert. Diese Version des Hergangs wurde seinerzeit von den führenden Mitgliedern der Deutschen Volksgruppe in Rumänien, d. h. der NS-Organisation der Rumäniendeutschen, kolportiert. Angeführt wird desgleichen (auf Grund einer falschen Information von Andreas Hillgruber), die Deportation zur Aufbauarbeit sei auf Grund eines geheimen Zusatzprotokolls oder einer geheimen Klausel des am 12. September 1944 von Rumänien und den Alliierten in Moskau unterzeichneten Waffenstillstandes erfolgt. Weist man ehemalige Deportierte darauf hin, dass die Aushebungen zumeist von gemischten Trupps, bestehend aus sowjetischen und rumänischen Soldaten bzw. rumänischen Gendarmen durchgeführt wurden, sagen die Betroffenen, „die Russen“ hätten sie verschleppt. Im kollektiven Bewusstsein herrscht jedoch weiterhin die Ansicht vor, die rumänische Regierung habe den Deportationsbefehl erteilt.

Nach der Öffnung der rumänischen Archive sind mittlerweile zahlreiche Urkunden gefunden worden, die belegen, dass die Sowjets gezielt die Aushebung von „rumänischen Staatsbürgern deutscher Herkunft“, die Frauen im Alter von 18 bis 30 und die Männer zwischen 17 und 45 Jahren, angeordnet haben. Bekannt ist mittlerweile auch der Protest des damaligen Premierministers Nicolae Rădescu und anderer rumänischer Politiker. Forscher aus Österreich, Deutschland und der Sowjetunion veröffentlichten den am 16. Dezember 1944 von Stalin unterzeichneten Geheimbefehl zur „Mobilisierung zur Arbeit“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien und Rumänien, auf den in Beiträgen in der ADZ in vergangenen Jahren Bezug genommen wurde. Von der Verschleppung zur Aufbauarbeit waren alle „Deutschstämmigen“ aus Mittel- und Südosteuropa betroffen, d. h. Menschen aus allen Gebieten, die unter sowjetischen Einfluss geraten waren. Die Registrierung dieser Deutschen fand meist zeitgleich mit dem Vorrücken der Roten Armee statt, die Aushebungen erfolgten vor Kriegsende – um als Grund auch angeben zu können, dass es sich um eine vom Kriegsgeschehen motivierte Sicherheitsmaßnahme handelt.

Weniger geschrieben wurde über die Haltung der USA und Großbritanniens in dieser Angelegenheit. Sie waren die beiden „Partner“ der Sowjetunion in der Alliierten Kontrollkommission, die das Geschehen in Rumänien (und den anderen mittel-südosteuropäischen Staaten) bis zur Unterzeichnung des Friedensvertrages überwachten. Wiederholt zitiert werden die zynischen Bemerkungen des britischen Premiers Winston Churchill (aus der am 18. Januar verfassten Mitteilung an seinen Außenminister Eden): „Warum machen wir so viel Aufhebens um die russische Deportation von Sachsen und anderen aus Rumänien? Es galt als vereinbart, dass die Russen in dieser Sphäre ihren Willen durchsetzen sollen.“ Oder: „In Anbetracht all dessen, was Russland erlitten hat (...) und angesichts des Elends der Menschen in vielen Teilen Europas kann ich nicht erkennen, dass die Russen etwas Falsches tun, wenn sie 100.000 oder 150.000 dieser Menschen ihre Vergehen abarbeiten lassen.“ (Churchill an Eden am 19. Januar 1945.)

Die beiden Urkunden aus dem Public Record Office in London sind in deutscher Sprache in dem dreibändigen Standardwerk „Die Deportation von Siebenbürger Sachsen in die Sowjetunion 1945-1949“ des von Prof. Dr. Georg Weber (Münster) geleiteten  Forscherteams (Böhlau-Verlag, 1995) abgedruckt. Dessen Band 3 beinhaltet eine Reihe weiterer Dokumente aus den Archiven in Washington und London. Anhand ihrer sowie Urkunden aus dem Archiv in London, die die Historikerin Dr. Hildrun Glass (München) zur Verfügung stellte, wird im Folgenden auf einige Aspekte der britischen und amerikanischen Haltungen in der Frage der Deportation zur Aufbauarbeit in die Sowjetunion eingegangen.

Die Briten und Amerikaner

Informiert wurden die Briten und Amerikaner von den Absichten der Sowjets von rumänischer Seite: Außenminister Constantin Vişoianu berichtete dem amerikanischen politischen Vertreter in Bukarest, Burton Y. Berry, am 3. Januar 1945, dass die Sowjets vorhaben, die Bürger deutscher Herkunft aus Rumänien auszuheben und nach Russland zu bringen. Die rumänische Regierung habe gegen diese Forderung energisch protestiert, da sie völlig außerhalb der Waffenstillstandsbedingungen liegen, heißt es in dem Telegramm, das Berrys am 4. Januar an das amerikanische Außenministerium schickte. Der britische politische Repräsentant in Bukarest, Le Rougetel, kabelt die Nachricht über die sowjetischen Forderungen ebenfalls am 4. Januar 1945 an sein Außenministerium – und ebenfalls nach einem Gespräch mit dem rumänischen Außenminister am Tag zuvor. Den von ihm erhaltenen Informationen zufolge, würden bis zum 15. Januar 500 Eisenbahnwaggons benötigt, um mit dem Abtransport zu beginnen.

General Vinogradov, der stellvertretende sowjetische Vorsitzende der Alliierten Kontrollkommission, informierte die militärischen Repräsentanten der USA und Großbritanniens erst am Abend des 4. Januar über das Vorbereiten von Listen mit Deutschen. In den Gesprächen deutete Vinogradov die Absicht an, diese Personen zur Aufbauarbeit nach Stalingrad und andere beschädigte Produktionszentren zu bringen, noch habe er jedoch keine Handlungsanweisungen aus Moskau erhalten, sagt er. Die Sowjets verwendeten die Hinhaltetaktik: Die von ihnen angeordnete „Deutschenzählung“ war in Rumänien am 15. Dezember 1944 abgeschlossen worden. Den allgemeinen Deportationsbefehl hatte Stalin am 16. Dezember 1944 unterzeichnet. Den Aushebungs-, Sammel- und Transportbefehl für die Deutschen aus Rumänien sandte Vinogradov der rumänischen Regierung am 6. Januar 1945 zu. 

Die Partner in der Alliierten Kontrollkommission hielt Vinogradov hin, die rumänischen Politiker log er an: Dem Außenminister hatte er gesagt, der Beschluss zur „Mobilisierung zur Arbeit für die Dauer des Krieges“ der Deutschen sei „im Einvernehmen“ mit den Alliierten getroffen worden. Der Befehl an den Ministerpräsidenten, das Ausheben der arbeitsfähigen deutschen Einwohner, gleich welcher Staatsangehörigkeit, zwischen dem 10. und 20. Januar 1945 anzuordnen, wurde im Namen der alliierten Kontrollkommission unterzeichnet. Den Depeschen zwischen Bukarest, London und Washington und den Aktenvermerken der Diplomaten ist zu entnehmen, dass Briten und Amerikaner überrumpelt worden waren und ihr Einverständnis für die Maßnahme keineswegs gegeben hatten. Am 10. Januar 1945 schickt der britische Botschafter in Moskau, John Balfour, dem sowjetischen Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, V.  M. Molotov, eine Note, in der er ihn im Namen der britischen Regierung aufmerksam macht, dass diese der geplanten Aktion niemals zugestimmt hat. Burton Y. Berry hatte aber bereits am 4. Dezember 1944 festgestellt: Das sowjetische Kommando scheint die Kontrollkommission als ein Instrument zur Durchsetzung des Willens der sowjetischen Organe in Rumänien zu betrachten und als solchem wird der amerikanischen und der britischen Vertretung in der Kommission wenig Beachtung geschenkt.   

Den zynischen Bemerkungen von Churchill war ein reger Meinungsaustausch zwischen den britischen und amerikanischen Diplomaten und Militärs in Bukarest und London bzw. Washington vorausgegangen. Der Hauptgrund der Besorgnis war das eigenmächtige Vorgehen der Sowjets und dass sie das Waffenstillstandsabkommen übertreten. Den etwas entschiedener gegen die Deportation auftretenden Amerikanern erklärt Vinogradov am 12. Januar, die Maßnahme habe doppelten positiven Effekt: Es werde die Möglichkeit deutscher Sabotage gegen die alliierten Verbindungslinien ausgeschaltet und die dringend benötigten Arbeitskräfte für den Wiederaufbau und zu Kriegszwecken beschafft. Das Waffenstrecken der Briten ist auf die im Oktober 1944 von Stalin, Churchill und Roosevelt getroffene Vereinbarung zurückzuführen, in der die Einflussnahme in den Staaten Südosteuropas in Prozenten festgelegt worden war. Der Einfluss der Sowjetunion in Rumänien sollte 90 Prozent betragen, jener von Briten und Amerikanern 10 Prozent.

Wer rumänischen Archivdokumenten wenig oder keinen Glauben schenkt, erhält anhand der amerikanischen und britischen Urkunden den Beweis, dass es sich bei der Deportation von Deutschen aus Mittel- und Osteuropa, und darunter auch rund 75.000 Personen aus den Gebieten des heutigen Rumänien, um eine Willkürmaßnahme der Sowjets gehandelt hat. Die rumänischen Behörden wurden als Werkzeug eingesetzt. Angesichts der internationalen Lage und der Machtverhältnisse in Europa konnten sie die Aushebungen nicht verhindern.