Welcher Festivaltyp bist du?

Nur angepasste Langeweiler gehen zum Untold

Scheeßel, irgendwo zwischen Hamburg und Bremen, tief in der niedersächsischen Provinz. Einmal im Jahr ziehen zehntausende Rock-Fans in die kleine norddeutsche Gemeinde, umgeben von Wäldern, Wiesen und Mooren, ein. Mit rund 70.000 Besuchern ist das „Hurricane“ eines der größten Musikfestivals im deutschsprachigen Raum. Für viele Musik-Fans ist es der Höhepunkt des Jahres, und für lange Jahre war es auch meiner.
Das „Hurricane“, wie auch die vielen kleineren Festivals, die ich in den letzten 15 Jahren besucht habe, folgten einem sich ständig wiederholendem Ritual. In den Tagen vor dem Festival ging man gemeinsam Einkaufen, das heißt vornehmlich Bier und Dosen-Ravioli, die zwei Grundnahrungsmittel eines Festivalwochenendes. Auf einem Bollerwagen und in Trekkingrucksäcken wurde alles ordentlich verstaut, das Bier aber immer griffbereit. Später wurden die Sachen einfach ins Auto geschmissen. Die mehrstündigen Fahrten im Zug, ob nach Scheeßel oder auch nach Hohenfelden und Leipzig waren stets der feuchtfröhliche Beginn eines Festivalwochenendes, welches schon am Donnerstag begann. Am Donnerstag spielte zwar noch keine Band, doch für uns und viele andere bedeutete der Tag eine zusätzliche Party-Nacht, die meist in einem Exzess endete. Bei meinem ersten Besuch auf dem „Hurricane“ habe ich in der Früh zwei Stunden lang mein Zelt gesucht.

Tagsüber wurde Flunkyball gespielt. Dabei stehen sich zwei Mannschaften gegenüber und in der Mitte ist eine Flasche plaziert. Diese gilt es umzuwerfen. Gelingt dies, haben die Spieler des eigenen Teams Zeit, in möglichst wenig Zügen ihre Bierdosen zu leeren. Hat die andere Mannschaft die Flasche wieder aufgestellt, muss die Dose abgesetzt werden. Es war die beste Möglichkeit, die Zeltnachbarn kennenzulernen und sich den Tag zu vertreiben. Die Bands waren dabei nebensächlich. Arctic Monkeys, NOFX, Kings of Leon und Deichkind. Auch das beste Line-up konnte nicht gegen die Atmosphäre auf dem Zeltplatz bestehen. Schon ein dutzend Konzerte an einem Wochenende war ein sehr guter Schnitt für viele von uns. Gewiss, es gab auch die Festivalgänger, die vornehmlich oder ausschließlich wegen der Musik kamen. In späteren Jahren gab es für sie abgetrennte Campingflächen, das sogenannte „Green Camping“. Das „Hurricane“ zieht allerdings in erster Linie die „Zeltplatz-Chiller“ (siehe Festival-Typen) an. Das liegt auch am Wetter. Denn das ist in Norddeutschland nicht nur häufig regnerisch, es ist auch stürmisch. Dass Konzerte wegen Stürmen abgesagt werden müssen, ist keine Seltenheit. Im letzten Jahr wurde das Festivalgelände wegen eines Unwetters am Samstag gar nicht erst geöffnet und noch am Montag waren viele Autos im Schlamm versunken. Doch genau das macht den besonderen Reiz des Hurricane-Festivals aus. Denn auch wenn sich viele Rock-Festivals im Line-up heute sehr ähnlich sind, das „Hurricane“ hat es geschafft, sich in den vergangen 20 Jahren eine ganz eigene Identität aufzubauen.

Untold-Festival: Das Treffen der Festival-Snobs und Coachella-Indie-Mädchen

Sommer 2015, Klausenburg/Cluj-Napoca ist Europäische Jugendhauptstadt und am ersten Wochenende im August findet das Untold-Festival statt. Ich wohne in Klausenburg, dementsprechend leicht fällt mir die Entscheidung ein Ticket zu kaufen. Ein Festival in einer Großstadt ist auch für mich ein neues Erlebnis. Ich bin zwar kein großer Electro-Fan, aber es sind auch Boney M und Jeru the Damager angekündigt, und schließlich stand auch die Airbeat One, das größte Elektrofestival in Norddeutschland jährlich in meinem Festivalkalender.
Am letzten Abend spielt David Guetta. Ich verlasse die Cluj Arena bereits nach einer Viertelstunde. Nicht nur, das David Guetta grauenvoll ist, nach vier Tagen Untold-Festival steht für mich fest: moderne EDM-Festivals sind die Hölle. Sie haben weder etwas mit Clubbing noch mit Musikfestivals zu tun. Sie sind der Ausdruck einer Gesellschaft von Selbstdarsteller und Angebern. Beschissene Musik für beschissene Menschen von beschissenen DJs. Nicht das Feiern steht im Vordergrund, sondern das Posieren für Fotos auf Facebook und Instagram. Damit passt es perfekt in die oberflächliche post-kommunistische rumänische Gesellschaft.

Das „Untold“ ist kein natürlich gewachsenes Festival. Es begann nicht mit ein paar Hundert oder Tausend Leuten in irgendeinem kleinen Dorf, die auf einer Wiese sich und ihre Vorliebe für elektronische Musik feierten. Das Untold-Festival war von Beginn an eine Mega-Veranstaltung ohne eigenen Charakter. Eines dieser elektronischen Musikfestivals, die derzeit überall auf der Welt aus dem Boden sprießen. Eine billige Kopie des belgischen Tomorrowland-Festivals. Zu den Bauteilen gehört eine Mainstage, ein Dance-Zelt, ein paar bunte Mülleimer und ein Verkäufer mit hässlichen Kopfbedeckungen für die Coachella-Hippie-Atmosphäre. Beim Untold-Festival geht es nicht um Kultur, um Zusammenhalt, Glücklichsein oder unvorhersehbare Erfahrungen. Es dreht sich um Komfort, Luxus und Sicherheit, um Handyladestationen, Yoga und das perfekte Instagramfoto.
Seid keine langweiligen Festival-Snobs (siehe Festival-Typen). Geht nicht zum Untold-Festival und bezahlt ein halbes Monatsgehalt für ein Apartment oder ein Bett im Studentenwohnheim. Klar, mit einem Festivalbändchen vom Untold lässt sich bei den Freunden mächtig Eindruck schinden und mit den Hashtags #untoldfeeling oder #musicislife gibt es auch die so wichtigen „Likes“ bei Instagram, doch Festivals können mehr. Ihr müsst gar nicht wie beim „Hurricane“ den ganzen Tag Bier trinken und Flunkyball spielen. Auch in Rumänien gibt es Festivals mit ganz eigener Atmosphäre – zum Beispiel das „Double Rise Festival“ in Rimetea (29. Juni – 2. Juli) im Verwaltungskreis Alba. Infos dazu auf doubl erise.ro.

FESTIVALTYPEN

Der „Zeltplatz-Chiller“ fühlt sich von den Rock-Festivals magisch angezogen. Bei dieser Spezies handelt es sich vornehmlich um junge Männer von Anfang bis Ende 20, die in der Gruppe unterwegs sind. Entspannt hängen sie im Campingstuhl ab, ein frisches Bier stets in der Hand. Dort bleibt der Zeltplatz-Chiller häufig auch das ganze Festival über sitzen. Typischer Satz: „Die Band hör’ ich auch von hier.“
Der Gegenentwurf zum Zeltplatz-Chiller sind die „Coachella-Indie-Mädchen“. Der Look für jeden einzelnen Festivaltag wurde lange im voraus akribisch geplant und das Outfit hat meist mehr gekostet als das Ticket. Mit dem richtigen Instagramfilter fühlt sich dann jedes noch so kleine Festival nach Kalifornien und Coachella an.
Auch am dritten Tag riecht der „Festival-Snob“ noch verdächtig gut. Insgeheim hat er sich für Festivals schon immer zu alt gefühlt. Unbequem, dreckig, nass – das mag der Festivalsnob gar nicht, und erst recht nicht zelten. Am Ende des Tages fährt er nach Hause oder ins Hotel. Eben dorthin, wo es ein richtiges Bett gibt und er am nächsten Morgen duschen kann. Am letzten Tag hat er als einziger noch saubere Klamotten und perfekt frisiertes Haar.

Er reist mit einer Gruppe an und verschwindet schon, bevor das Zelt aufgebaut ist. Nach drei bis fünf Stunden hören seine Freunde dann auch auf, ihn anzurufen. Sein Handy hat er sowieso schon längst verloren. Aber eins ist sicher: Am letzten Festivaltag taucht der „Verschwundene“ dann doch wieder auf. Typischer Satz: „Wo seid ihr denn plötzlich hin?“
Wochenlang hat der „Musiknerd“ mit der Festivalplanung verbracht. Auf Spotify und YouTube hat er sich jedes Album jeder einzelnen Band mehrmals angehört. Noch vor dem ersten Konzert nimmt der Musiknerd das Festivalgelände unter die Lupe. Er muss wissen wann er eine Bühne verlassen muss, um rechtzeitig beim nächsten Konzert zu sein. Sein Ziel ist das Maximale an allen Konzerten. Den Zeltplatz-Chiller verachtet er.
Auch in einer Masse von 70.000 Menschen muss der „Festival-Clown“ noch um jeden Preis auffallen. Ähnlich wie die Coachella-Indie-Mädchen hat auch er sich sein Outfit lange im voraus zurechtgelegt. Das kann die dämliche Boratbadehose, ein verkacktes Spiderman-Outfit oder ein bescheuerter Hut sein. Seine Währung sind aber keine Instagram-Likes, sondern High-Fives.