Wenn das Erdreich zu sprechen beginnt

Dr. Marius Oprea gräbt nach Opfern des Kommunismus und rekonstruiert Verbrechen

Die Direktorin des Kulturhauses „Friedrich Schiller” kündigt weitere Veranstaltungen im Rahmen der Vortragsreihe „Auf der Suche nach dem verlorenen Volk” an. Im Hintergrund Dr. Marius Oprea.
Foto: George Dumitriu

„Jeder hat sich vor jedem gefürchtet,” sagt die unbekannte Stimme leise, während der altmodische Wagen über die staubige Feldstraße holpert. Ringsum Hügel, Bäume, Wiesen – und alles schwarzweiß. Die Idylle trügt. Sein Bruder hätte sich bloß bei der Armee melden sollen, fährt die Stimme fort. Er tat es nicht - wurde dafür erschossen und am Wegesrand verscharrt. Sein Fall ist kein Einzelschicksal.
 
Über die Opfer des Kommunismus und die Arbeit des Historikers Dr. Marius Oprea, Gründer des Instituts zur Aufklärung von Verbrechen durch den Kommunismus, heute Institut zur Aufklärung von Verbrechen durch den Kommunismus und zur Erforschung des rumänischen Exils, wurde in der ADZ bereits ausführlich berichtet: am 18.6.2016 in „Der Knochenjäger” und am 19.11. 2016 in „Das ganze Land ist ein Friedhof”. Am 28. Februar fand im Kulturhaus „Friedrich Schiller” die dritte Veranstaltung des Konferenzzyklus „Auf der Suche nach dem verlorenen Volk” statt. Gezeigt wurde der Film „Die Hinrichtung” (Drehbuch: Marius Oprea; Regie: Nicolae Mărgineanu), in dem diesmal Menschen zu Wort kamen, die beobachtet oder am Rande miterlebt haben, was am 9. März 1950 geschah: Vier Jugendliche aus einem Dorf in Bistritz-Nassod/Bistriţa-Nasăud wurden von der Securitate brutal erschossen. Ohne Grund, ohne Urteil. Ihre Eltern mussten die Gräber schaufeln.

Nur ein Vorname als Vermächtnis

Am 24. April 2007, ziemlich genau 57 Jahre später: 18 Menschen steigen einen Hügel am Rande der Gemeinde Hălmăsău hinauf: Forscher, Polizisten, zwei Gerichtsmediziner, ein Staatsanwalt. Was sie dort erwartet, ist nichts für empfindsame Seelen: Schädel mit Löchern, verkrümmte Skelette, verstreute Gebeine im Schlamm. Doch wo es Knochen gibt, gibt es Beweise, gibt es einen Fall - und es kann endlich ermittelt werden. Spuren des Verbrechens wurden zuerst in den Akten der Securitate entdeckt, erklärt Marius Oprea. Doch die Staatsanwälte hatten das Dossier 1992 geschlossen. Es gibt keinen Mord ohne Leiche, erklärte man ihm lakonisch. Seither gräbt er mit seinem vierköpfigen Team, bisher in acht Landkreisen: Alba, Bistritz-Nassod, Karasch-Severin, Klausenburg/Cluj, Hunedoara, Sathmar/Satu Mare, Maramuresch und Salaj. „Zeitgenössische Archäologie” nennt er diese Spurensuche.

„Viele meldeten sich damals nicht zur Armee”, erzählt die Stimme weiter. Sie wollten das Regime nicht unterstützen. Manche Bauern versorgten die Widerstandskämpfer, die sich in den Bergen versteckt hatten, mit Lebensmitteln. Andere äußerten sich kritisch zur Kollektivierung. Man musste nicht viel falsch machen, um eine Kugel zu verdienen. Oder auch 30, wie in Bistra (Alba), wo fünf Menschen mit einem ganzen Maschinengewehr-Magazin hingemäht wurden. „Wir hatten Schwierigkeiten, die Knochen den einzelnen Skeletten zuzuordnen”, erläutert Marius Oprea. Wilde Tiere hatten sich zudem an den zunächst achtlos in einem Schuppen liegengelassenen Opfern zu schaffen gemacht. „Ich trage den Vornamen meines toten Bruders”, sinniert ein Mann namens Ion in dem Film. „Wenn er noch leben würde... dann trüge er jetzt diesen Namen - und ich halt einen anderen”. Ein Vorname lebt weiter - als einziges Vermächtnis. In einem Punkt sind sich die Hinterbliebenen einig: Sie wünschen sich mit aller Kraft, dass der Täter, der den Befehl zum Erschießen gegeben haben soll – verdächtigt wird Melente Moldovan - endlich ein Geständnis ablegt. Doch dieser kann sich an nichts mehr erinnern...

Reicher Großbauer mit löchrigen Schuhen

„Es ist paradox, aber wir sind glücklich, wenn wir einen Toten finden”, sagt Marius Oprea. Von 57 Gesuchten wurden 33 gefunden, 24 blieben unentdeckt. Dies frustriert, gibt der Historiker zu, doch tröstet er sich damit, dass vielleicht nicht jedes Opfer gefunden werden will... Auslöser der Kampagnen sind meist die Hinterbliebenen, die sich ein christliches Begräbnis für den verschollenen Vorfahren wünschen. Doch nicht alle Nachkommen kennen die Wahrheit: Der Enkelin von Petru Vitan aus Pui, Hunedoara, hatte man erzählt, der Großvater sei an der Front gefallen. „Sie hat erst durch uns die Wahrheit erfahren”, erklärt Marius Oprea. Pui hatte dem Widerstand angehört und war im Hinterhalt durch eine Granate ums Leben gekommen.

Als Motiv für ein schnelles Todesurteil genügte damals wenig : Aurel Ionac musste aus dem Weg geräumt werden, weil seine Verlobte dem Dorfleiter der Securitate gefallen hatte. Tira Geza, Bahnhofsangestellter in Sath-mar/Satu Mare, wurde erschossen, weil er einem zivilen Reisezug vor einem sowjetischen Armeezug die Vorfahrt gegeben hatte. Traian Pom, ein angeblich reicher Großbauer, der zwei Hektar Land und ein wenig Wald besaß, soll den Partisanen mit Lebensmitteln geholfen haben. Er hinterließ drei kleine Kinder, eines davon lebt noch. Sein Skelett, 2016 ausgegraben, verrät eine andere Version vom sogenannten Reichtum: „Er hatte Opinci aus Autoreifen an den Füßen, die vom langen Tragen bereits löchrig waren”, bemerkt Oprea.

Die Funde, vor allem die wenigen persönlichen Gegenstände, die mit ausgegraben werden, bewegen den „Knochenjäger”: Ein Spiegel, der bei einem 16-Jährigen gefunden wurde; das erste Gesicht seit dessen Tod, das sich darin wieder erblickte, war seines. Oder die kleine Schere, die neben einem Skelett lag, während das Erdreich um die Magengegend zahlreiche Traubenkerne freigab. „Der Bauer hatte Weinbeeren gegessen und die Trauben vorsichtig abgeschnitten, um die Pflanze nicht zu beschädigen”, folgert Oprea. Der Mann, der sein eigenes Grabkreuz schuf: Andrei Meşter aus Salciua (Alba), war Gendarm, heiratete nach dem Krieg die Witwe eines Kürschners und übernahm dessen Handwerk. Weil er sich gegen die Kollektivierung äußerte, wurde er von zuhause abgeholt und ohne Urteil erschossen. Die Witwe kaufte den Leichnam der Securitate ab und bestattete ihn, wie damals in manchen Regionen üblich, im eigenen Garten – auf seinem Grab ein Holzkreuz, das dieser zu Lebzeiten selbst geschnitzt hatte. Nur vier Archäologen stehen Marius Oprea für seine Suche nach den Opfern des Kommunismus zur Verfügung, auch das Budget des Instituts ist knapp. Nun will er die Behörden überzeugen, ein nationales Programm mit einer größeren Mannschaft ins Leben zu rufen. „200.000 Euro würden genügen, um alle Opfer des Kommunismus auszugraben” ...und das Erdreich im ganzen Land zum Sprechen zu bringen.