„Wenn ich einen Schritt mache, dann tut der Herrgott neun“

Ein Bildhaueratelier, Töpferworkshops und eine eigene kleine Schule – der mutige Weg einer jungen Familie zum Erfolg

Linolschnitt-Workshop für Kinder im Schlosspark von Mogoşoaia

Beim Töpfern und Modellieren in Piscu können die Kleinen nach Herzenslust mit Dreck mantschen.

Virgil und Adriana Scripcariu bei der Taufe von Nesthäkchen Grigore.

Dieses Werk von Virgil Scripcariu ziert den Platz vor der anglikanischen Kirche in Bukarest.

1648 gefällten Kirschbäumen verschaffte der Künstler in der Ausstellung 412x4 nachträglich einen aufsehenerregendes Auftritt.

Adriana und Virgil Scripcariu posieren mit Teodora und Maria.
Fotos: George Dumitriu

Zufrieden nuckelt der kleine Grigore an der Brust, während sie im Computer nach Dateien sucht. Tecla, Maria und Teodora springen fröhlich kreischend auf einem Matratzenlager herum. Ioan hat auf einem langen Holztisch allerlei Farbtöpfchen aufgebaut. „Mama, was soll ich für den Rahmen nehmen?“

Fragend hält er eine Hinterglasmalerei in die Höhe. Adriana blickt kurz auf: „Dunkelrot, vielleicht?“ Durch die rundum angeordneten Fenster des geräumigen Turmzimmers dringt fahles Sonnenlicht. Am fernen Horizont leuchten von der anderen Seite des Sees die Türme des Klosters Ţiganeşti durch den Nebel. Zwischen ihm und dem kunstvollen Weidenflechtzaun vor dem Haus erstreckt sich nur ein grünes Band.  In dieses Bild haben sich Virgil und Adriana Scripcariu seinerzeit verliebt. Spontan war es am Ende des langen Maisfeldes aufgetaucht, aus dem das junge Paar wieder ans Licht trat. In diesem Moment war ihnen klar: Hier wird unser zukünftiges Heim entstehen.

Heute, acht Jahre später, umfasst das Grundstück der Scripcarius in Piscu, etwa 35 Kilometer von Bukarest, dem früheren Lebensmittelpunkt des Bildhauers und der Kunsthistorikerin entfernt, ein kleines Imperium. Im Hof vor dem geräumigen Künstleratelier tummeln sich sympathische Figuren – mal die lustigen Tiere aus der Arche Noah,  die heute wieder vor der Bukarester Buchhandlung Cărtureşti steht, mal der Guß einer schwangeren Frau mit Baby auf dem Arm, das mit einem langen Speer wie der heilige Georg auf einen Lindwurm zielt. Im Entstehen begriffene Werke, oder auch solche, die hier nur auf Urlaub sind, weil sie mal wieder überholt werden müssen.
Dahinter ragt das  Hauptgebäude auf, schlicht und geschmackvoll mit Holzbalustraden, Backsteinwänden und einem lichtdurchfluteten Säulengang.

Auf dem Weg zum Wohnbereich, mit dem Turmzimmer als Bastel-, Arbeits- ,  Spiel- und Aufenthaltsraum für die Großfamilie, queren wir im Erdgeschoß einen hellen Saal mit urigem gemauertem Ofen und hölzernen Schulbänken: das Klassenzimmer der Privatschule „Agatonia“.

Altes Handwerk zu neuem Leben erweckt

Eine der Hauptattraktionen auf dem Gelände ist jedoch der riesige Töpferofen aus Lehm. Denn kurz nachdem sich die jungen Leute spontan zum Kauf ihres Traumgrundstücks entschlossen hatten, erfuhren sie ganz zufällig, dass Piscu ein Dorf mit langer Töpfertradition war. Ein Wink des Schicksals! Also schien es ihnen naheliegend, das alte Handwerk vor dem Hintergrund ihrer künstlerischen Aktivitäten zu neuem Leben zu erwecken.

Auf der Suche nach den Geheimnissen dieser fast verlorenen Tradition interviewten sie die alten Meister im Dorf, erlernten Tricks und Kniffe und dokumentierten akribisch ihr neu erworbenes Wissen, an dem sie auch das Bauernmuseum in Bukarest teilhaben ließen. Mit dessen Unterstützung fand 2007 das erste Sommerlager für Dorfkinder statt.

Das vom Nationalen Kulturfonds finanzierte Projekt, das die Scripcarius im Rahmen eines Wettbewerbs gewonnen hatten, war für die junge Familie ein wichtiger Einstieg. Es folgten Workshops und Sommerlager im ganzen Land  –  Surdeşti, Bran, Sibiel, Urlaţi – zum Töpfern, aber auch zu anderen künstlerischen Aktivitäten, wie Ikonen-Glasmalerei, Porträtkunst oder Linolschnitt. Heute, sieben Jahre später, sind die Scripcarius längst als Profis etabliert.

Ob Ateliers für Kinder an den Sommerwochenenden im Schlosspark von Mogoşoaia oder ein Töpferstand auf dem jährlichen Straßenfest in Bukarest, Handwerkerkarawanen und  Exkursionen zu lokalen Sehenswürdigkeiten um Piscu, oder Teambuilding Workshops, bei denen Erwachsene mit Ton modellieren können. Das ehemalige Töpferdorf Piscu ist nicht nur auferstanden, es hat längst Vorbildcharakter für jene, die sich für Traditionen und alte Handwerkskunst begeistern (www.piscu.ro).

Großfamilie und Beruf unter einem Hut

Für die Kunsthistorikerin Adriana Scripcariu schien es ganz natürlich, ihrem Beruf eine Richtung zu geben, die sich sowohl mit den künstlerischen Aktivitäten ihres Mannes, den Bedürfnissen ihrer fünf Kinder, aber auch ihren eigenen Interessen in Einklang bringen lässt. Als Sohn Ioan (11) zur Welt kam, war die heute 34-Jährige noch mitten im Studium. Mit Tecla (8) schwanger, schrieb sie an ihrer Diplomarbeit über die Gesellschaft und die Heiligen in der mittelalterlichen Altstadt von Bukarest. Mit Maria (6) im Bauch und später mit Teodora (3 ½) begann sie, das Thema in einer Doktorarbeit weiter zu vertiefen, die sie 2012, fast zeitgleich mit der Geburt von Grigore, beendete.

So hatten sich die Kinder nach und nach in ihr akademisches Leben integriert, nahmen teil an den Workshops und Sommerlagern, inspirierten sie zu einem Kinderbuch („Mein erstes Buch über Lehm“, 2007), sowie zu einem Grundschulbuch über das Kulturerbe des Landkreises Ilfov (siehe ADZ vom 11. Oktober 2012: „Lust auf Legenden und alte Gemäuer“).

Agatonia – eine Schule für Kulturerbe

Zu all diesen Aktivitäten kam vor zwei Jahren auch noch eine eigene kleine Schule hinzu, in der Adriana Scripcariu derzeit selbst unterrichtet. Der Schwerpunkt von „[coala Agatonia“ ist – wie könnte es anders sein – Kindern das Kulturerbe ihrer Heimat nahezubringen und in ihnen frühzeitig die Liebe zu Traditionen und altem Kunsthandwerk zu wecken. „Als wir aufs Dorf zogen, war mir klar, dass Schule ein Problem sein würde“, motiviert sie ihre Entscheidung für diese immerhin bedeutende Zusatzbelastung – auch wenn ihr inzwischen eine Haushaltshilfe das Putzen und Kochen abnimmt.

Ioan hatte noch die Dorfschule besucht, mit der sie  sechs Jahre lang hervorragend in Projekten kooperiert hatten. Als diese geschlossen wurde, ergab sich nicht nur ein logistisches Problem, sondern auch die Frage, wie später den kleineren Kindern eine wertvolle Ausbildung zuteil werden solle. So kam es, dass mit der Einschulung von Tecla die erste Klasse gegründet wurde. Zusammen mit vier weiteren Kindern aus dem Dorf unterrichtet Adriana ihre Tochter nun schon in der zweiten Schulstufe.

Das Modell hat sich bewährt. „Man kann die Talente der Kinder ganz anders fördern, wenn man statt 30 nur fünf in der Klasse hat“, erklärt die junge Mutter und fügt hinzu: „In den ersten vier Schuljahren modelliert sich der Charakter, die Kinder lernen zu entscheiden, wozu sie Ja oder Nein sagen.“ Dies wolle sie ihrem Nachwuchs ermöglichen, bis sie, innerlich gefestigt, auf öffentliche Schulen losgelassen werden. Deshalb wird es auch im nächsten Jahr, wenn Maria schulreif wird, wieder eine erste Klasse geben – und eine weitere Lehrperson.

Wie aber gestaltet sich der Unterricht in einer Schule für Patrimonium? „Der Lehrplan für die Grundschule erlaubt viele Freiheiten“, erklärt Adriana Scripcariu.  In den Fächern Lesen, Werken oder Musik kann sie die Lektionen aus ihrem eigenen Buch einbauen. Einmal pro Woche wird mit Lehm modelliert und Exkursionen finden zu historischen Stätten in der Umgebung statt. „Und anstelle von Harry Potter lesen wir halt rumänische Märchen.“

Wie aber begeistert man in einer Zeit, in der Konsum und moderne Technik höher im Kurs stehen als Tradition und Kultur, die Eltern für eine solche Schule? Adriana Scripcariu lächelt. „Wenn sie unseren Lehmofen sehen, die alten Objekte und Möbel im Klassenraum, dann weckt das in vielen Erinnerungen an eine Kindheit auf dem Land, wie es sie heute nicht mehr gibt. Dann wünscht man sich auf einmal, dass die eigenen Kinder  auch so etwas kennenlernen.“

Ein Anfang mit vielen Entbehrungen

Zu einem Leben auf dem Land hatte sich das Ehepaar erst entschlossen, nachdem das erste Kind geboren war. „Wir hatten eine schöne Wohnung im Zentrum von Bukarest“, erzählt Adriana Scripcariu, „kulturelle Angebote an jeder Ecke, die Uni,  Bibliotheken.“ Doch wenn man Kinder hat, beginnt man automatisch, umzudenken: Saubere Luft, Platz zum Toben, gesundes Essen treten in den Vordergrund. Virgil benötigte Raum, ein eigenes Atelier.

Langsam wurde ihnen bewusst, dass sie aus der Stadt raus mussten. Doch die Anbindung an Bukarest konnten sie von Berufs wegen nicht aufgeben. Der Zufall führte die beiden nach Piscu, wo ihnen ein Förster ein Grundstück anbot. „Ein Maisfeld, lang wie eine Krawatte“, lacht Adriana. Gemeinsam gingen sie es ab, von der Straße bis zum Ende. Nach dem atemberaubenden Blick auf das Kloster sahen sich die beiden wortlos an. Die Entscheidung war gefallen.

Eltern, Freunde und Verwandte waren erstmal entsetzt., als das junge Paar kurz entschlossen die Bukarester Wohnung verkaufte und mit zwei kleinen Kindern in einen Wohnwagen in die Einöde zog. Während langsam ein neues Heim  entstand, meldete sich  das dritte Kind an. „Im Dezember zogen wir in den Rohbau ein“, erinnert sich die damals Hochschwangere an die  schwierige Anfangszeit. „Mein Herz weinte, wenn ich irgendwo ein Badezimmer sah!“

Heute sind die Entbehrungen  von einst fast vergessen. Adriana klickt auf den Bildschirm. Während der Kleine genüsslich schmatzt, öffnet sich ein Link zu ihrem neuen Projekt: Schulbücher für weitere Landkreise. Wie  sie das alles schafft? „Man muss einfach nur anfangen“, lächelt  die junge Frau. „denn wenn ich einen Schritt tue, dann macht der Herrgott immer gleich neun!“