Wie lange sprechen wir noch Deutsch?

Weltsprache Englisch bedroht Sprachenvielfalt in Europa

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Niemand weiß, wie viele Sprachen es tatsächlich gibt, leitet der Linguist Prof. Dr. Rudolf Hoberg seinen Vortrag zum Thema „Das Hauptproblem heutiger Sprachenpolitik: Die Dominanz des Englischen und die Rolle der anderen Sprachen“ anlässlich des internationalen Symposiums der Gesellschaft für deutsche Sprache am 17. Oktober am Bukarester Polytechnikum ein (die ADZ hat berichtet). Man vermutet, zwischen 6000 und 7000 weltweit – doch die meisten Sprachen sind klein und daher in ihrem Fortbestand akut gefährdet. Nur um die 300 Sprachen verzeichnen mehr als eine Million Sprecher, nur 12 bis 15 um die 100 Millionen Sprecher. Auf letztgenannter Liste bildet unsere deutsche Sprache das Schlusslicht. Und doch...

Wenn man Russisch als häufigste Sprache am europäischen Kontinent ausklammert, steht Deutsch dort an erster Stelle! Nicht etwa Englisch oder Französisch, wie die meisten der Befragten glauben. Englisch liegt auf Platz 2, Französisch auf Platz 3, gefolgt von Italienisch, Ukrainisch, Polnisch, Spanisch und – Überraschung! – Rumänisch mit immerhin 27 Millionen Sprechern. Erst dann reihen sich Niederländisch, Ungarisch und die übrigen der ca. 140 europäischen Sprachen ein.

Doch der Linguist relativiert: Die Bedeutung einer Sprache hängt nicht von der Zahl ihrer aktuellen Muttersprachler ab, sondern von ihrer kulturellen und historischen Rolle. Sonst müssten wir in Europa vorwiegend Deutsch, weltweit hingegen Chinesisch sprechen. Warum lernen wir stattdessen immer noch Englisch und Französisch? Warum sogar tote Sprachen wie Griechisch, Aramäisch und Latein?

Zweites Kriterium für die Bedeutung einer Sprache sind politisch-wirtschaftliche Gründe. Deshalb sind Vorträge und Veröffentlichung meist auf Englisch. Vor hundert Jahren hingegen dominierte Deutsch die Wissenschaft: Physik, Chemie, auch Philosophie. Es hat wohl mit unserer Geschichte zu tun, meint Hoberg, dass dies nicht mehr so ist. Andererseits lernen ausgerechnet viele Russen und Polen Deutsch, obwohl sie im Zweiten Weltkrieg stark unter den Deutschen gelitten haben, gibt er zu bedenken. Betrachten wir die in Europa dominierenden Fremdsprachen, so steht an erster Stelle Englisch, dann Deutsch und erst dann Französisch. Die Position unserer Sprache an zweiter Stelle verdanken wir der Tatsache, dass Deutsch in Osteuropa eine herausgehobene Bedeutung zukommt, erklärt der Linguist.

Englisch als Weltsprache – eine historische Premiere

Doch keine Sprache ist derzeit weltweit so dominant wie Englisch. Obwohl das Hinauswachsen einer Sprache über eine Nation in der Vergangenheit durchaus vorkam – denken wir an Aramäisch zur Zeit Christi und später an die Verbreitung von Griechisch oder Latein – nimmt die englische Sprache erstmals die Rolle einer Weltsprache ein. „Gestatten Sie mir eine arrogante Vorbemerkung“, plädiert daher der Vortragende schmunzelnd mit Bezug auf den Titel seines Vortrags: „Ich rede über das wichtigste Thema, das alle Sprachen angeht. Denn noch nie in der Menschheitsgeschichte war die Dominanz des Englischen so stark wie heute.“

Globalisierung verlangt eine gemeinsame Sprache. Doch „selbst wenn China in 100 Jahren die Welt dominiert, frage ich mich, ob Englisch als Weltsprache verdrängt wird“, überlegt Hoberg. Und fragt in die Runde: „Warum sollten wir nicht alle Englisch lernen?“ Denn zweifellos bietet eine Weltsprache auch Vorteile: Sie ermöglicht eine gemeinsame Kommunikation ohne Übersetzer und damit verbundene Missverständnisse. Doch Sprache ist nicht nur Mittel zur Kommunikation. Die Eigenheiten einer Sprache bestimmen unser Denken, entgegnet der Linguist. Jede Sprache, derer wir uns bedienen, setzt uns eine Brille auf, durch die wir anders sehen. Man kann sie nicht einfach übersetzen – oder ersetzen; jeder Dolmetscher weiß das. Ein illustratives Beispiel: „Let’s meet tonight“ – im Englischen die harmlose Aufforderung zu einem späten Treffen. Aber: „Treffen wir uns nachts – das geht gar nicht im Deutschen!“, lacht Hoberg belustigt auf. „Es sei denn, man impliziert ein geheimnisvolles, leicht dubioses oder erotisches Treffen...“

Keine Kampfansage den Anglizismen

Obwohl Hoberg für den Erhalt der Sprachenvielfalt plädiert, ist er kein Feind von Anglizismen. Denn es sind nicht diese, die unsere Sprache bedrohen. Militanten Gegnern von Anglizismen wirft er vor, sich nur gegen die allerneuesten Modewörter zu wenden. Denn längst sind Worte mit englischen Wurzeln in unsere Sprache infiltriert, die wir gar nicht mehr als solche erkennen: „kontrollieren“, „realisieren“, „konfirmieren“ oder kommunizieren“ sind nur scheinbar deutsche Begriffe, doch längst gehören sie zur deutschen Sprache. Sie sind Beispiele für schleichende Anglizismen. Auch die Sinnveränderung von Redewendungen zeugt vom zunehmenden Einfluss des Englischen: Statt „es hat keinen Sinn“ sagt man heute „es macht keinen Sinn“ („it makes no sense“). Und auch gegen „Sport“ oder sogar „okay“ haben Anglizismengegner meist nichts einzuwenden.

Hoberg hat fünf Gründe identifiziert, warum sich Menschen gegen Anglizismen wenden, und überprüft deren Berechtigung. Das erste Paradigma: Anglizismen sind überflüssig. Nehmen wir als Beispiele „Kids“ oder „Events“ – kann man da nicht „Kinder“ und „Ereignis“ sagen? „Anglizismengegnern fehlt ein differenziertes Sprachbewusstsein“, setzt Hoberg dem entgegen. Denn die Bedeutung ist nicht identisch: „Event“ ist eben nicht nur ein Ereignis, sondern ein spezifisches mit „Trara-Charakter“. Kein Mensch käme auf die Idee, zu sagen, die Beerdigung der Großmutter sei ein Event.

Der zweite Vorwurf der Anglizismengegner lautet, die Verständigung werde erschwert. Hier kontert Hoberg mit der Werbung. Sie ist voller englischer Wörter, und doch ist ihr oberstes Ziel, von allen verstanden zu werden. Dem dritten Argument, Anglizismengebrauch zeuge von Angeberei, gibt der Experte statt. Wieso ist auf einmal alles „best of“, warum bezeichnet man Nachrichten als „news“? Kommen wir zum vierten Einwand: Die deutsche Sprache verwendet Anglizismen, die es nicht einmal im Englischen so gibt. Beispiel ist das Handy, aber auch der Body, der im Deutschen nicht den Körper, sondern ein einteiliges Stück Unterwäsche bezeichnet. „Warum darf man nicht kreativ sein?“, fragt Hoberg und unkt, „bestimmt schreibt man Handy bald mit ‚ä‘ und ‚i‘“. Zum fünften Argument, die Deutschen hätten ein gestörtes Verhältnis zu ihrer Sprache wegen der Nazizeit, kontert der Linguist, die Schweizer hätten ohne Nazis genauso viele Anglizismen. Interessant ist vielleicht auch, dass unter den erbitterten Anglizismengegnern kaum Sprachwissenschaftler zu finden sind...

Sprache ist Identität

Nicht Anglizismen sind das Problem, betont Professor Hoberg. Erst recht ist dies kein neues Phänomen. Schon Goethe setzte sich damit auseinander und forderte belustigt auf: „Lasst die Worte doch alle reinkommen!“ Schließlich ist auch das Englische voller Fremdworte.

Die Gefahr besteht vielmehr darin, dass die deutsche Sprache vom Englischen als Weltsprache ganz verdrängt werden könnte. Was aber spricht dagegen? Zum einen das Interesse der Menschen an unserer Sprache, überrascht der Experte und verweist auf die Rechtschreibreform, über die sogar jeder Taxifahrer seinerzeit hitzig diskutierte. Für ihn bedeutet dies: Sprache ist Identität.

Gerade zur Zeit der Globalisierung suchen Menschen verstärkt nach Identität: Das Interesse an Dialekten – früher praktisch nicht vorhanden – lebt erneut auf. Erstmals hört man auch Bekenntnisse, die es früher nie gegeben hätte, etwa: „Ich bin stolz, Deutscher zu sein“. Auch wenn man die Vorrangstellung des Englischen als Kommunikationssprache anerkennt, ist man sich dennoch auch auf EU-Ebene offiziell einig: Die Sprachenvielfalt in der Staatengemeinschaft ist eine Bereicherung und soll auf jeden Fall erhalten bleiben.

Was können wir hierfür tun? Ohne übertriebene Anglizismenfeindlichkeit auf unsere Sprache achten, empfiehlt Hoberg. Selbst wenn Englisch als Wirtschaftssprache dominiert, müssen wir auch weiterhin deutsche Begriffe verwenden – denn sonst gehen sie verloren. Es geht hier um einen Erziehungsprozess, in dem Schulen, Institutionen und das Elternhaus eine große Rolle spielen – es genügt nicht, nur Konferenzen abzuhalten. „Sprachenlernen hat Wert an sich“, insistiert der Linguist und ergänzt: „Mein Traum von Europa ist, dass wir alle weiterhin in unserer Muttersprache sprechen, aber mehrere Sprachen zumindest rezeptiv kennen.“